Cartoneering Methode

Die Cartooneering-Methode – Szenarien erstellen mithilfe von Comics

Im vorherigen Beitrag wurde die Herausforderung beschrieben, in komplexen Softwareprodukten zu einer gemeinsamen Produktvision zu kommen, die für alle Stakeholder stimmige Szenarien enthält. Hierfür haben wir »Cartooneering« entwickelt, eine Kombination aus Proto-Personas und einem Netzwerk von miteinander in Verbindung stehenden Comics. Diese Comics werden nicht beliebig gestaltet, sondern folgen Regeln für den Aufbau und die visuelle Gestaltung. In diesem Beitrag untersuchen wir, wie Benutzer in Comics dargestellt werden und wie die Verwendung unterschiedlicher Perspektiven das Verständnis von Herausforderungen mit komplexen Strukturen erleichtert.

Das Ziel von Cartooneering ist es, komplexe Sachverhalte sowie zu lösende Probleme rund um softwarebasierte Systeme und deren Nutzergruppen einfach erklärbar zu machen. Hierbei soll allen beteiligten Stakeholdern eine einheitliche und vollständige Sicht auf das zu entwickelnde System gegeben werden. Damit wird erreicht, dass das Prinzip der Anwendung des Systems, aber auch die Motivationen, Handlungsweisen und Gedanken der Nutzenden im Nutzungskontext verstanden werden. Da Systeme sehr häufig Interaktionen zwischen den Nutzergruppen erfordern, ist es zentral für Cartooneering, auch die Beziehungen der Nutzenden untereinander darzustellen. Dies erfordert mehrere Comics, um verschiedene Szenarien rund um die Lösung und ihren Einsatz deutlich zu machen.

In diesem Beitrag zeigen wir, wie wir mithilfe von Cartooneering die Szenarien aufbauen und strukturieren. Hierfür haben wir sechs Handlungsempfehlungen für die Szenarien zusammengestellt:

  1. Ein Protagonist und eine Aufgabe pro Comic
  2. Nebencharaktere sind Personas, wenn möglich
  3. Wechsel der Perspektive
  4. Verwendung von fünf Akten
  5. Fokus auf die komplette Customer Journey anstatt auf die Interaktion mit dem Produkt
  6. Die Handlung muss auf einen Blick erkennbar sein

Bühne frei für den Protagonisten

Wichtig ist zunächst einmal, dass der Protagonist der Geschichte klar ist und im Vordergrund steht. Damit bestimmt eine Persona klar den Fokus der gezeigten Handlung. Wenn verschiedene Figuren in einem Comic auftreten, ist es zentral, dass es nur einen Protagonisten pro Comic gibt, der (s)eine Herausforderung darin lösen muss. Damit hat die Geschichte immer eine klare Perspektive. Hat der Protagonist mehrere Herausforderungen, werden diese in einzelnen Comics visualisiert. Das bedeutet: Ein Protagonist kann in mehreren Comics eingesetzt werden. Wichtig ist, dass der Comic innerhalb des Lösungsraums spielt. Es wird gezeigt, wie das umzusetzende System dazu beiträgt, die Herausforderung zu lösen.

Eine Produktvision und damit auch das Produkt, das entwickelt werden soll, kann mehrere Protagonisten beinhalten. In diesem Fall gibt es verschiedene Herausforderungen, die auch in Abhängigkeit zueinander stehen können (mehr dazu im Kapitel »Perspektiven«). Wichtig ist aber: Ein Comic hat genau einen Protagonisten und genau eine Herausforderung.

Diagramm, dass veranschaulicht, dass eine Persona mehrere Probleme haben kann, die in mehreren Comics visualisiert werden.
Abbildung 1: Grundprinzip von Protagonisten: Personas können in ihrer Rolle als Protagonist mehrere Probleme haben, die jeweils in einem Comic behandelt werden.

Andere (Neben-) Charaktere

Die Interaktionen in Comics und in der damit angestrebten User Journey erfolgen in der Regel zwischen unterschiedlichen Zielgruppen, mehr oder weniger direkt über das zu entwickelnde System. Diese Zielgruppen werden von Personas bzw. Rollen repräsentiert, die in Cartooneering übergeordnet als Charaktere bezeichnet werden.

Die wichtigste Rolle in einem Comic und damit ein unverzichtbarer Charakter in der Geschichte ist der bereits beschriebene Protagonist (siehe erste Handlungsempfehlung). Er ist die Person, die die Handlung maßgeblich vorantreibt (siehe Abbildung 2).

Cartooneering Comic mit dem Anwendungsfall, der zeigt wie die Feuerwehr in eine digitale Anwendung geonboarded wird, eine Löschübung filmt und diese dann von Kita-Kindern angeschaut werden.
Abbildung 2: Darstellung der Protagonistin Anja von der Feuerwehr und des Nebencharakters Lisa von der Kita

Die Personen, mit denen der Protagonist in Kontakt tritt (»Nebencharaktere« oder »Nebenrollen«), können ebenfalls eigenständige Personas sein, sofern sie im Produktkontext eigene Probleme bzw. Herausforderungen haben. Das heißt, eine Persona ist ein Nebencharakter, wenn sie einem Protagonisten hilft, sein Ziel zu erreichen. Dieser Perspektivenwechsel wird im nächsten Kapitel beschrieben.

Wechselnde Perspektiven einnehmen

Sofern innerhalb der Geschichte eine Figur stark mit einer zweiten Figur in Form eines Nebencharakters interagiert, kann es sinnvoll sein, in einem weiteren Comic die Geschichte aus der Perspektive dieser zweiten Figur zu gestalten. In diesem zweiten Comic wird die Figur vom Nebencharakter zum Protagonisten und andersherum, d.h. der Protagonist aus dem ersten Comic wird zum Nebencharakter.

Der Protagonist führt Handlung zum Erreichen seines Ziels durch und tritt dabei mit Nebencharakteren in Kontakt, um sein Ziel zu erreichen.
Abbildung 3: Grundprinzip von Protagonist und Nebencharakteren: Proto-Personas können in verschiedenen Geschichten verschiedene Rollen einnehmen und dabei auch zwischen Protagonist und Nebencharakter wechseln.

Es empfiehlt sich, keine integrierte Geschichte zu verfassen, weil beide Personen unterschiedliche Herausforderungen zu lösen haben. Zum Beispiel möchte eine Person einen alten Tisch im Internet verkaufen und eine andere sucht einen solchen Tisch. Auch wenn Käufer und Verkäufer in diesem Fall viel miteinander zu tun haben, sind die Motive und Beweggründe unterschiedlich.

Eine Geschichte kann aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Hier Ludwig, der eine Aufgabe sucht und zur Erfüllung in einer Kita ehrenamtlich Vorleser wird und Lisa, die als Erzieherin einen ehrenamtlichen Vorleser für die Kita sucht.
Abbildung 4: Beispiel für die Geschichten aus den jeweiligen Perspektiven von Ludwig und Lisa und wie diese als jeweilige Nebencharaktere den Protagonisten bei der Erreichung des Ziels unterstützen

In Abbildung 5 wird eine Geschichte aus der Perspektive der Kita-Mitarbeiterin Lisa (Protagonist) gezeigt. Hier interagiert sie auf ihrem Lösungsweg mit Ludwig, der zur Lösung ihres Problems beiträgt. Die Perspektive von Ludwig wird in Abbildung 6 deutlich. Hier wird er zum Protagonisten, da sein Lösungsweg betrachtet wird.

Durch den Einsatz mehrerer Comics für die unterschiedlichen Perspektiven, aber auch durch die Darstellung aller Probleme, die die Protagonisten (evtl. zusammen mit Nebencharakteren) mit dem geplanten Produkt lösen müssen, entsteht ein Netzwerk aus Comics, die miteinander in Verbindung stehen. Das Erstellen dieses Netzwerks ist ein Hauptbestandteil von Cartooneering.

Comic, dass die Suche nach einem Vorleser aus der Perspektive der Kita darstellt.
Abbildung 5: Handlung aus Lisas Perspektive
Im Vergleich zum vorherigen Comic die dargestellte Handlung aus der Perspektive des Vorlesers. Der Einstieg in die Handlung ist anders und es werden andere Schwerpunkte gelegt.
Abbildung 6: Handlung aus Ludwigs Perspektive

Folge der Theorie der fünf Akte aus dem Drama

Für uns hat es sich als hilfreich erwiesen, die Struktur eines jeden Comics und damit des gezeigten Szenarios nach dem Prinzip des klassischen Fünf-Akte-Dramas aufzubauen. Die fünf Akte geben einen Spannungsverlauf in fünf Schritten wieder, über die Einführung in die Geschichte bis hin zur Lösung (siehe Abbildung 7):

  1. Im ersten Akt, dem Prolog oder der Vorgeschichte, erfolgt die Vorstellung der Charaktere. Der Protagonist, die Nebencharaktere und der Kontext (Umgebung, Beruf etc.) werden eingeführt.
  2. Im zweiten Akt, der Steigenden Handlung, wird das Problem beschrieben. Im Kontext, in dem sich der Protagonist befindet, steht er vor einer Herausforderung, die er lösen muss und die für ihn eine Hürde darstellt. Daher muss die Herausforderung möglichst früh im Comic erklärt werden.
  3. Im Klimax, dem Höhe- oder Wendepunkt der Geschichte, wird angedeutet, dass die Lösung bereits in Sicht ist. Hier wird betont, dass die Hoffnung besteht, dass das Produkt, das im Projekt entwickelt werden soll, das Problem lösen wird. Das Produkt muss dabei noch nicht konkret visualisiert werden. Der Fokus liegt auf der Nutzung durch den Protagonisten.
  4. Im vierten Akt, der Fallenden Handlung, wird das Produkt bis zu seinem Abschluss genutzt. Teilschritte, die zur Zielerfüllung benötigt werden, werden visualisiert. Gibt es bekannte Abhängigkeiten zu anderen Charakteren, wird auch die Interaktion mit ihnen dargestellt. Solche Abhängigkeiten sind ein Indikator dafür, dass der Charakter, der hier eine Nebenrolle hat, vermutlich auch einen eigenen Comic braucht, da er das Produkt auch nutzt, wenn auch auf eine andere Art und Weise,
  5. Im fünften Akt, der Lösung des Konflikts, findet sich die Auflösung des Problems sowie das Ergebnis. Dabei wird verdeutlicht, wie nach der Anwendung des Produkts ein Happy End erreicht wird.
Schematische Darstellung wie die Spannung im Drama über die Akte hinweg ansteigt und fällt. Bei der Klimax ist der Höhepunkt erreicht und es fällt wieder bis zum Ende ab.
Abbildung 7: Spannungsverlauf eines Comics/einer Story über die fünf Akte hinweg. In Akt I beginnt sich die Spannung durch die Einführung in die Geschichte aufzubauen. In Akt III wird der Höhepunkt des Spannungsverlaufs erreicht, da hier der Lösungsweg offenbart wird. Die Umsetzung und das Erreichen des Ziels lösen die Spannung auf.

Fokus auf die komplette Customer Journey

Bei der Umsetzung der Comics liegt der Schwerpunkt auf der Lösung des Problems und dem Blick auf den zu erreichenden Zustand. In diesem Zusammenhang ist es nicht zwingend erforderlich, das Produkt, das zur Zielerfüllung dient, in allen Einzelheiten zu präsentieren. Der Fokus liegt stattdessen auf der Einführung der Charaktere mit ihren individuellen Anforderungen, Bedürfnissen, Problemen und Zielen. Ebenso wird die Handlung in den Vordergrund gerückt, gepaart mit einer detaillierten Darstellung der grundlegenden Idee hinter dem Projekt.

Als bewährte Faustregel hat sich herauskristallisiert, in mindestens der Hälfte der Bildsequenzen bewusst auf die Darstellung des Produkts zu verzichten. Dieser Ansatz ermöglicht es, den Fokus verstärkt auf die Charakterentwicklung und die Entwicklung der Handlung zu legen. Auf diese Weise gewinnt die Erzählung an Tiefe, und die Leserschaft kann sich noch stärker mit den Protagonisten identifizieren und in deren emotionale Reise eintauchen. Dies wird auch in Abbildung 8 deutlich, denn nur in drei von acht Bildern wird die Anwendung gezeigt, in den anderen fünf die Hintergründe der Personas.

Comic, dass ein Theater zeigt, dass für Kinder einen Blick hinter die Kulissen anbietet. Fünf von acht Bilder beschreiben die Welt außerhalb des Prouktes. Wie die Kita im Theater ist, wie die Kinder den Blick hinter die Kulissen erhalten etc. In drei Der Bilder wird die Buchung des Angebots in der Software gezeigt.
Abbildung 8: In fünf der acht verwendeten Bilder ist nicht die Anwendung zu sehen

 

Die Handlung muss auf einen Blick erkennbar sein

Die Comics, die erstellt werden, sollen vor allem dazu dienen, den beteiligten Stakeholdern ein einheitliches und klares Bild von der Vision und den zu lösenden Problemen zu vermitteln. Sie zeigen auch auf, wie diese Lösungsschritte aussehen könnten, ohne dabei zu viele Details auf Software- bzw. Produktebene zu geben. Das bedeutet, dass wir die Details der Handlung so minimal wie möglich halten. Notwendige Details können ergänzt werden, sofern sie für das Szenario wichtig sind. Ferner können sich weitere Details im Projektverlauf ergeben. Daher sollten die Comics stetig ergänzt und aktualisiert werden.

Wichtiger ist an dieser Stelle aber die Anzahl der Bilder pro Comic. Sechs Bilder pro Comic haben sich als Mindestanzahl herausgestellt, mit denen ein Problemlösungsprozess gut im 5-Akte-Schema dargestellt werden kann. Diese geringe Anzahl eignet sich vor allem als initiale Darstellung der Probleme zu Projektbeginn.

Schon nach den ersten Analysephasen im Projekt sollte der Comic aber wachsen. Acht oder zehn Bilder sind ein guter Mittelwert, der wichtige Informationen beinhaltet und den Nutzer der Comics nicht überfordert.

Die maximale Anzahl für Comics liegt unseren Erfahrungen nach bei 12 bis 14 Bildern. Werden mehr Bilder verwendet, wird es schnell sehr schwer, den Prozess direkt zu verstehen. Es besteht die Gefahr, dass zu viele Details abgebildet werden, die die Diskussionen und Entscheidungen komplexer machen.

Fazit und Ausblick

Cartooneering bietet eine kreative Lösung für die Herausforderung, bei der Entwicklung in komplexen Softwareprojekten eine gemeinsame Produktvision zu erarbeiten. Die Kombination von Proto-Personas und Comics ermöglicht es, die Herausforderungen und Nutzerperspektiven verständlich zu präsentieren. Unsere sechs Handlungsempfehlungen bieten eine klare Struktur für die Gestaltung aussagekräftiger Szenarien in Comics. Neben einer klaren Struktur sollte auch die visuelle Gestaltung nicht außer Acht gelassen werden. Daher haben wir uns mit Gestaltungsrichtlinien für die Comics auseinandergesetzt. Diese Richtlinien sind entscheidend, um sicherzustellen, dass die Anwendung mit Cartooneering optimale Ergebnisse erzielt.

Wie können Farben gezielt eingesetzt werden? Wie können Emotionen übermittelt werden? Wie kann die Kommunikation zwischen den Charakteren dargestellt werden, ohne dass es überladen ist? Diese und weitere Aspekte werden wir Schritt für Schritt im nächsten Beitrag beschreiben.

Cartooneering für Sie

Mithilfe von Cartooneering erarbeiten wir eine Produktvision mit ausgefeilten Personas, Anwendungsszenarien und detaillierten Comics. Sprechen Sie mit uns über eine mögliche Zusammenarbeit. Dies hilft Ihnen, eine genaue Vorstellung darüber zu bekommen, welche Bedarfe das zu entwickelnde Produkt adressieren soll.