Am 1.6.2021 fiel der Startschuss für das BMWi-geförderte Projekt SPELL. Die Abkürzung steht für »Semantische Plattform zur intelligenten Entscheidungs- und Einsatzunterstützung in Leitstellen und Lagezentren«. Wie der Name bereits erahnen lässt, soll in dem Projekt Künstliche Intelligenz für Leitstellen und Lagezentren zur Anwendung kommen, um diese bei der Koordinationen von Einsätzen zu unterstützen und somit einen wichtigen Schritt in Richtung der Digitalen Transformation im Notfall- und Katastrophenmanagement zu leisten. Weitere Ziele sind die Weiterentwicklung von Applikationen, die allgemeine Warnungen, Maßnahmen und Lageinformation an die Bevölkerung und unterschiedliche Beteiligte gewährleisten sowie eine Notfallkommunikation per Live-Audio, Live-Video oder Live-Chat ermöglichen sollen.
Im Projekt SPELL arbeitet das schlagkräftige Konsortium bestehend aus dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz als Konsortialführer, dem DRK-Landesverband Rheinland-Pfalz e.V., der Empolis Information Management GmbH, der Fraunhofer-Gesellschaft e.V. mit ihren Instituten Fraunhofer IESE und Fraunhofer Fokus, der ISE Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung mbH, der LiveReader GmbH, die BASF SE, der Corevas GmbH & Co. KG, der Advancis Software & Services GmbH, der Apheris AI GmbH, der Technische Universität Darmstadt, sowie dem VfS Verband für Sicherheitstechnik sowie weiterer assoziierter Organisationen Hand in Hand zusammen, um gemeinsam bestmögliche Ergebnisse zu erzielen.
Im ersten Teil unserer Blog-Serie zum Projekt SPELL, möchten wir zunächst den Hintergrund des Projektes erläutern und aufzeigen, warum die genannten, anspruchsvollen Zielsetzungen im Sinne einer »krisengewappneten Zukunft« unbedingt verfolgt werden müssen. Zunächst finden die Lesenden in den folgenden Abschnitten daher eine Einführung in die komplexe Tätigkeit der Leitstellen-Teams. In den nachfolgenden Beiträgen unserer Mini-Serie gehen wir dann gezielt auf spezifische Aspekte und den konkreten Nutzen der im Projekt angestrebten Ziele ein und zeigen auf, wie Künstliche Intelligenz für Leitstellen und Lagezentren in Notfall- und/oder Katastrophensituationen sinnvoll eingesetzt werden kann.
Leitstellen – Ein integraler Bestandteil der Gefahrenabwehr
Bei Not- und Gefahrenlagen sind sie die ersten Anlaufstellen: Die Leitstellen von Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei. Die Leitstellenlandschaft ist in Deutschland sehr unterschiedlich gestaltet. Während es beispielsweise separate Leitstellen für Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei gibt, sind in den letzten 15-20 Jahren vermehrt Zusammenlegungen zu sogenannten »integrierten Leitstellen (ILS) « entstanden, die meistens Feuerwehr und Rettungsdienst zusammenfassen. Seltener sind Leitstellen zu finden, die neben Feuerwehr und Rettungsdienst, auch die Polizei unter einem Dach integriert haben. In letzterem Fall spricht man im »Blaulicht-Jargon« auch von sogenannten »bunten Leitstellen«.
Bereits in frühen Kindestagen lernen wir die beiden Nummern 112 für Feuerwehr und Rettungsdienst sowie 110 für den Notruf der Polizei kennen. Leitstellen der BOS, also Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben, sind jedoch nicht nur für das Annehmen dieser Hilfeersuche zuständig, sondern auch für die Koordination der daraus entstehenden Einsätze und fungieren somit als Knotenpunkte für die Verarbeitung und Weitergabe mannigfaltiger Informationen.
Leitstellen als komplexe Knotenpunkte für Informationen
Notwendige Einsätze, die durch die Leitstellen koordiniert werden, können nicht nur aus Anrufen resultieren, sondern auch »technisch« ausgelöst werden. Die Rauchmelder eines öffentlichen Gebäudes zählen diesbezüglich zu den bekannteren Beispielen. Ebenso können Entnahmen eines öffentlichen, automatischen Defibrillators (AED), wie er zur Wiederbelebung durch Laien verwendet werden soll, automatisch an die Rettungsleitstelle gesendet werden. Auch sehr spezifische Daten, z. B. aus der seismografischen Überwachung von Straßen oder diverse Wetterdaten, können hier gebündelt werden. Technische Weiterentwicklungen, wie automatisierte Notrufsysteme in Fahrzeugen, sog. eCall-Systeme (1) oder die Übermittlung von Handy-Standortdaten der Notrufenden (2), bringen einerseits wichtige Informationen und Chancen, benötigen andererseits jedoch auch eine entsprechende IT-Infrastruktur und die Kompetenzen des Leitstellen-Teams.
Wussten Sie eigentlich…
… dass bei einem Notruf, abhängig vom Mobiltelefon und dessen Betriebssystem, automatisch Standortdaten der Notrufenden an die Rettungsleitstelle übermittelt werden können?
… dass moderne Notrufsysteme in Fahrzeugen direkt einen Notruf (112) absetzen können, wenn sich ein Verkehrsunfall ereignet hat und die Fahrzeuginsassen dazu nicht mehr Lage sind?
Leitstellen sind nicht nur der Informationsknotenpunkt für Notrufe und einsatzspezifische Daten, sondern auch eine Führungseinrichtung, die ihrerseits Informationen an die Einsatzmittel (z. B. Rettungswagen oder Löschfahrzeug) und Einsatzkräfte verschickt und diese immer wieder abgleicht. Am Beispiel der Integrierten Leitstelle Kaiserslautern wird schnell klar, wie umfassend diese Aufgaben sind, die durch das Team beherrscht werden müssen: »Täglich alarmiert, führt und unterstützt die Integrierte Leitstelle (ILS) Kaiserslautern ca. 270 Einsätze. Dabei werden Rettungsmittel von 217 Feuerwehreinheiten (473 Fahrzeuge), 14 Rettungswachen (68 Fahrzeuge), 134 Katastrophenschutzeinheiten (incl. SEG, PSNV, First-Responder) koordiniert und gelenkt.« (4). Ein Rettungshubschrauber wurde zwischenzeitlich ebenfalls im Einzugsbereich der ILS Kaiserslautern stationiert.
Die Leitstellen im Alltagsbetrieb und im Katastrophenfall
Die Aufgaben der Leitstellen bestehen jedoch nicht nur aus der Notrufannahme und Alarmierung, sondern aus einer umfassenden Koordination der am Einsatz Beteiligten. Dazu gehören die Einsatzkräfte und Führungskräfte der verschiedenen BOS vor Ort, die Versorgung und Information weiterer Entscheidungsträger sowie das Zusammenführen der BOS-Kräfte mit unterschiedlichsten Dritten, wie z.B. Pflegediensten, Krankenhäusern, Straßenmeistereien etc. Dabei gilt es, permanent einen Überblick über die aktuellen Ressourcen im Einzugsgebiet zu haben. Dies wird am Beispiel einer Rettungsleitstelle schnell deutlich: Es werden also Echtzeit-Informationen benötigt, die z. B. angeben, welche Behandlungskapazitäten die Krankenhäuser zum jeweils relevanten Zeitpunkt haben. Der Ausfall eines Computertomografen oder eine überlastete Notaufnahme können so berücksichtigt und die Rettungswägen und sonstigen Einsatzfahrzeuge strategisch geleitet werden. Schließlich wäre es fatal, wenn sich erst nach Ankunft eines Rettungswagens herausstellen würde, dass ein kritisch kranker Patient nicht optimal versorgt werden kann, weil ein spezielles Gerät nicht zur Verfügung steht und dieser dann erst in ein anderes Krankenhaus gefahren oder geflogen werden muss. Diesen Echtzeit-Abgleich mit verfügbaren Krankenhaus-Behandlungskapazitäten erfolgt in Rheinland-Pfalz daher beispielsweise elektronisch mit dem sog. Zentralen Landesweiten Behandlungskapazitätennachweis, kurz ZLB. Die web-basierte Anwendung (, welche im Übrigen vom Fraunhofer IESE entwickelt wurde) ermöglicht eine überregionale Zusammenarbeit und bietet eine umfassende Ressourcenübersicht über die Behandlungs-, bzw. Versorgungskapazitäten der Krankenhäuser (3). Am Beispiel der Covid-19-Pandemie und dem sog. Kleeblattsystem, wurde die Notwendigkeit einer systematischen Koordination ebenso deutlich. Gemeinsam mit spezialisierten Notärztinnen und Notärzten wurde die Verteilung der Patient*innen in den Regionen koordiniert. Lesen Sie hierzu auch folgenden Blog-Beitrag, in dem wir den ZLB als unser »Tool zur Disposition in der Notfallmedizin« vorstellen.
Die Arbeit der Leitstellen-Teams ist durch Komplexität gekennzeichnet. Diese entsteht oftmals durch unübersichtliche Situationen (Notfälle/Gefahrenlagen), die unter Zeitdruck in einer technisch anspruchsvollen Umgebung bewältigt werden müssen.
In Entscheidungsprozessen müssen sowohl von der Leitstelle, also auch von den Einsatzkräften vor Ort, eine Vielzahl an verschiedenen Informationen berücksichtigt werden. Die systematische und effiziente Vernetzung aller Einsatzkräfte und weiterer Beteiligter ist daher essenziell.
Während die Leitstellen-Teams bereits im Alltagsbetrieb, sofern man bei den komplexen und vielseitigen Aufgaben überhaupt von Alltag sprechen kann, in einem anspruchsvollen Umfeld agieren, kommen bei außergewöhnlichen Lagen besondere Anforderungen hinzu. Bei sogenannten »Großschadensereignissen«, wie Flutkatastrophen oder Terroranschlägen, sind die Leitstellen für die Erstalarmierung der entsprechenden Ressourcen zuständig und später für die enge Koordination mit weiteren Führungseinrichtungen, wie Lagezentren vor Ort, die sich mit der lokalen Bewältigung des Ereignisses befassen. Die Herausforderung besteht unter anderem darin, dass die Einsatzsachbearbeitenden (»Leitstellendisponent*innen«) nicht vor Ort im Einsatz sind, jedoch ein möglichst genaues Bild der Lage vor Ort benötigen, um einen individuellen Einsatz, beispielsweise einen medizinischen Notfall adäquat bewältigen zu können.
Leitstellen sind jedoch nicht ausschließlich bei den BOS zu finden, sondern auch dort, wo komplexe Gebäudeanlagen, Verkehrssysteme oder industrielle Prozesse überwacht und gesteuert werden müssen. Dort laufen z. B. in Echtzeit Informationen von Kontaktstellen, elektronischen Schließ- oder Sicherheitsanlagen, Einbruchsmelde- und Zutrittsanlagen oder Messstationen, die bestimmte Parameter in der Luft überwachen, ein. Im Notfall ist eine enge elektronische Vernetzung mit den BOS-Leitstellen sinnvoll, um Daten zeiteffektiv weiterleiten zu können.
Wussten Sie…
… dass nach den Polizeigesetzen der Bundesländer eine sogenannte »Eilzuständigkeit der Polizei« besteht? Das bedeutet, wenn beispielsweise der Rettungsdienst aufgrund einer Spitzenbelastung nicht rechtzeitig vor Ort sein könnte, hat die Polizei in eigener Zuständigkeit tätig zu werden [5]. Dies macht natürlich nur dann Sinn, wenn der Einsatz der Polizei als »Voraushelfer« einen Zeitvorteil verspricht. Um dies abschätzen zu können, bedarf es einer sehr schnellen Abstimmung zwischen Rettungsdienst und Polizei.
Natürlich ist diese Vernetzung auch innerhalb der BOS wünschenswert, z. B. wenn ein gemeinsamer Einsatz durch Rettungsdienst, Feuerwehr und Polizei bestritten werden muss. Auch im Rahmen der Eilzuständigkeit der Polizei ist eine entsprechende Vernetzung wichtig.
Die Arbeit in Leitstellen und deren große Verantwortung
An den genannten Beispielen wird deutlich, wie wichtig eng vernetzte Strukturen in Gefahren- und Katastrophensituationen sind. Außerdem wird offensichtlich, wie umfassend die Aufgaben der BOS-Teams sind, welche breit aufgebaute Kompetenzen die Teammitglieder besitzen müssen und wie gering der Raum für Fehlhandlungen ist. Jedoch sind hier nicht nur die BOS-Teams zu nennen, sondern auch weitere Berufsgruppen, wie die Expert*innen des Werkschutzes (z. B. bei großen Chemiefabriken) und weitere Profis, die die Gefahrenabwehr ermöglichen. Übrigens haben diese Teams eines gemeinsam: Sie tragen ohne Zweifel eine große Verantwortung für das eigene Team, für Dritte, für die Umwelt und ihre Entscheidung sind meist irreversibel, also Fehlentscheidungen sind nicht wieder gut zu machen [6].
Mitarbeitende von Leitstellen sind, sowohl auf BOS-Seite als auch auf Nicht-BOS-Seite, als High-Responsibility-Teams zu verstehen. Diese tragen eine besonders hohe Verantwortung für das Team an sich, weitere Dritte, die Umwelt und getroffene Entscheidungen sind meistens nicht umkehrbar.
Somit wird deutlich, wie komplex das Feld der Leitstellen-Teams und der Einsatzkräfte vor Ort ist. Gemäß dem Motto »Immer da« sind diese Menschen eine zentrale Säule der Daseinsfürsorge. Um eine effektive und effiziente Zusammenarbeit sowie eine Bewältigung komplexer Lagen zu ermöglichen, ist die Verfügbarkeit von Informationen unerlässlich. Jedoch ist durch das bloße Vorliegen einer komplexen Informationsmenge noch nichts gewonnen, denn die Informationen müssen durch Menschen verarbeitet und in den mitunter zeitkritischen Entscheidungsprozess integriert werden. Dies trifft auf die Einsatzkräfte und Leitstellen-Teams ebenso zu, wie auf die Bevölkerung, die sowohl frühzeitig gewarnt als auch im weiteren Verlauf engmaschig informiert werden muss.
Künstliche Intelligenz für Leitstellen und Lagezentren als neue Chance im Katastrophenmanagement
Im Projekt SPELL kommen die zu entwickelnden Applikationen auf Basis Künstlicher Intelligenz für Leitstellen, Lagezentren, aber auch die Zivilbevölkerung ins Spiel, mit denen wir die Erfassung, Verarbeitung und Vernetzung von Informationen sowie die Maßnahmeneinleitung in Notfall- und Katastrophensituationen vereinfachen wollen.
Wir freuen uns, in den nächsten Beiträgen unserer Mini-Serie Weiteres berichten zu können.
Noch mehr Infos zum Thema »Künstliche Intelligenz für Leitstellen und Lagezentren« und zu unserem Projekt SPELL gewünscht?
Wir empfehlen einen Blick in unsere weiteren Blog-Beiträge:
- Teil 2: Künstliche Intelligenz für Leitstellen und Lagezentren – Human Factors und Grundlagen der Entscheidungsunterstützung im Projekt SPELL
- Teil 3 (Link folgt nach Veröffentlichung)
Bei Fragen und/oder Anregungen kontaktieren Sie außerdem gerne unseren Kollegen und Ansprechpartner für »Digital Healthcare« Christian Elsenbast.
Literatur
- ADAC. Probleme beim eCall: Es geht um Menschenleben!; 2021 [Stand: 03.09.2021]. Verfügbar unter: https://www.adac.de/rund-ums-fahrzeug/unfall-schaden-panne/unfall/ecall-herstellernotruf/.
- Integrierte Leitstelle Freiburg · Breisgau-Hochschwarzwald. Standortdaten beim Notruf 112; o.D. [Stand: 03.08.2021]. Verfügbar unter: https://www.ils-freiburg.de/standortdaten.php.
- Fraunhofer IESE. Zentraler Landesweiter Behandlungskapazitätennachweis; 2021 [Stand: 03.08.2021]. Verfügbar unter: https://zlb.iese.de/zlb/content.
- Referat Feuerwehr und Katastrophenschutz der Stadt Kaiserslautern. Integrierte Leitstelle Kaiserslautern; 2021 [Stand: 03.08.2021]. Verfügbar unter: http://www.feuerwehr-kaiserslautern.de/technik/integrierte-leitstelle/.
- Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages. Kurzinformation Eilzuständigkeit der Polizei beim Vorliegen unmittelbarer Lebensgefahr; 2021 [Stand: 03.08.2021]. Verfügbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/852306/a84c88ff3933db817194b6137ff2db93/WD-3-120-21-pdf-data.pdf.
- Hagemann V. High Responsibility Teamarbeit in Hochrisikobereichen – Verantwortung mit Risiko. In: Hackstein A, Hagemann V, Kaufmann F von, Regener H, Hrsg. Handbuch Simulation. Edewecht: SK-Verlag; 2016.