Lebensmittelsicherheit geht uns alle an! – Klingt wie ein Werbeslogan, ist es aber nicht. Mehr denn je wird heute auf die Sicherheit unserer Nahrung geachtet. Und das ist auch gut so! Aber was passiert, wenn Lebensmittel einmal nicht sicher sind und zum Beispiel durch Schadstoffe oder Bakterien kontaminiert sind? Dann können gesundheitliche Schäden für Konsument*innen, weitreichende Imageschäden für die Lebensmittelhersteller und finanzielle Einbußen die Folge sein. Das Thema hat also eine hohe Relevanz. In diesem Blog-Beitrag wollen wir darlegen, wie es mithilfe des sogenannten CrowdRE gelingen kann, Lebensmittelrückrufe zu klassifizieren und somit Rückschlüsse auf etwaige Optimierungspotenziale innerhalb der Food Chain zu ziehen.
Am Fraunhofer IESE forschen wir gemeinsam mit einer Reihe anderer Fraunhofer-Institute im Zusammenschluss der Fraunhofer-Allianz Ernährungswirtschaft zu diversen Themen rund um »Ernährung«. Dazu gehören u.a. Aspekte und Forschungsschwerpunkte wie Lebensmittelanalytik, Verpackungstechnologie, Sensorik, Produktionstechnik und Logistik sowie Landwirtschaft oder Digitalisierung entlang der gesamten Food Chain. Die ultimativen Ziele fokussieren dabei auf eine Steigerung der Lebensmittelqualität, eine Ermöglichung von Individualisierung und Food-Alternativen, die Gewährleistung von Lebensmittelsicherheit sowie die Unterstützung von Nachhaltigkeit und Recycling.
Insbesondere das Thema der »Lebensmittelsicherheit« hat hohe Relevanz und geht uns alle an: Hersteller von Lebensmitteln, Konsument*innen mit ihrem täglichen Bedarf und Behörden, die sich mit Lebensmitteln und Lebensmittelsicherheit beschäftigen.
Das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) betreibt im Bereich Lebensmittelsicherheit das Portal Lebensmittelwarnung.de, das Warnungen und Rückrufe in den Kategorien
- Lebensmittel,
- kosmetische Mittel wie z.B. zur Zahn-, Haut- oder Haarpflege,
- Bedarfsgegenstände wie z.B. Spielwaren, Schmuck, Gegenstände mit Lebensmittel- oder Körperkontakt und
- Tätowiermittel
publiziert, nachdem die verantwortlichen Unternehmen den in ihrer Verantwortung liegenden Rückruf veröffentlicht haben. Gleichzeitig werden diese Rückrufe über die Social-Media-Kanäle des BVL und die zugehörigen Kanäle der Website lebensmittelwarnung.de (z. B. Twitter) bekannt gemacht.
Eine Analyse der BVL Tweets mittels Crowd Requirements Engineering
Als Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering IESE sind wir das Institut in der Fraunhofer-Allianz Ernährungswirtschaft, welches sich im Schwerpunkt mit Digitalisierung und digitalen Geschäftsmodellen beschäftigt. Zum breiten Portfolio des IESE gehört auch das sogenannte Crowd Requirements Engineering (CrowdRE). CrowdRE ermöglicht eine automatisierte und anonymisierte Feedback- und Bewertungssammlung aus digitalen Quellen. Davon ausgehend lassen sich die dabei erhaltenen Informationen nach Aspekten wie positiven und negativen Anmerkungen oder auch gewünschten Qualitätseigenschaften oder weiteren Informationen analysieren. Als mögliche Quellen dienen dabei z. B. Bewertungen aus Online Stores, Bewertungen von Apps in App Stores oder Social Media Postings wie z.B. Twitter Tweets. Das Fraunhofer IESE setzt CrowdRE bereits für eine Reihe diverser Unternehmen erfolgreich ein. Dazu gehört unter anderem auch die Debeka Versicherung, die Feedback von Nutzer*innen zu ihren Apps so zur gezielten Weiterentwicklung und Verbesserung nutzt. Die genannten Vorteile machen deutlich, welch großen Nutzen Unternehmen aus der CrowdRE-Technologie ziehen können. Mit Blick auf das Thema »Lebensmittelsicherheit« lohnt es sich daher ebenfalls, einen genaueren Blick auf die vorhandenen Tweets mit Lebensmittelrückrufen zu werfen. Gegenstand der Betrachtung waren dabei die Rückruf-Tweets des BVL der letzten beiden Kalenderjahre (2020 und 2021).
Sie wollen mehr zum Thema CrowdRE erfahren?
Lesen Sie hierzu gerne auch unseren folgenden Blog-Beitrag:
Analyse der Rückruf-Tweets des BVL (Betrachtungszeitraum: 2020/2021)
Insgesamt hat das BVL in den Jahren 2020/2021 547 relevante Rückruf-Tweets veröffentlicht: 266 im Jahr 2020 und 281 im Jahr 2021. Das entspricht ungefähr einem Rückruf-Tweet je Werktag. Dabei kann ein betroffenes Produkt mehr als einen Inverkehrbringer haben, was sich als Multiplikator auswirkt. Somit könnte also ohne entsprechende Warnungen der Hersteller an die Inverkehrbringer und das BVL schnell eine potenziell hohe Zahl von Konsument*innen in Mitleidenschaft gezogen werden.
Zur Klassifizierung der verfügbaren Rückruf-Tweets des BVL (Betrachtungszeitraum:2020/2021) wurden diese mittels CrowdRE folgenden Gruppen zugeordnet:
- Allergene: Allergene im Produkt gefunden bzw. Grenzwerte von Allergenen überschritten
- Bakterien: Bakterienbelastung im Produkt entdeckt bzw. Grenzwert überschritten, beispielsweise Salmonellen, Listerien, Coli oder andere mikrobiologische Belastungen
- Chemische Substanz: Überschreitung eines Grenzwerts einer chemischen Substanz, wie z.B. Ethylenoxid aus dem Bereich Pflanzenschutz oder Chrom/Nickel im Bereich von Spielwaren oder Produkten mit Körperkontakt wie Kleidung oder Schuhen
- Fremdkörper im Produkt: Fremdkörper wie z.B. Plastikteile, Metallstücke oder Glasscherben im Produkt gefunden
- Kennzeichnung: Bestimmte Inhaltsstoffe in der Kennzeichnung ausgelassen oder Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) falsch ausgewiesen
- Kühlkette: Kühlkette nachweislich unterbrochen
- Mechanische Gefahr: Gefahr des Aufblähens und Platzen oder Zerberstens der Verpackung durch chemische oder biologische Prozesse in einem luftdicht verpackten Produkt (z.B. in Glas, Becher, Konserve)
- Schimmel: Vorhandensein von Schimmel im oder am Produkt
Die Kühlkette in der Logistik funktioniert – Verbesserungspotenzial liegt bei der Lebensmittelproduktion
Schaut man sich die Kategorien der Rückruf-Tweets genauer an, so fällt auf, dass es in der Kategorie »Kühlkette« lediglich einen Tweet und damit einen Rückruf innerhalb der beiden betrachteten Jahre gab. Somit ist ersichtlich, dass Kühlketten bzw. deren ausreichende Überwachung gut funktionieren, was sich in dem einen Rückruf niederschlägt.
Wendet man sich jedoch anderen Kategorien zu, so wird schnell deutlich, dass 432 Tweets (ca. 80 % aller Tweets in beiden Jahren) den Kategorien »Bakterien«, »Fremdkörper im Produkt« und »chemische Substanzen« zugeordnet wurden. Diese Kategorien betreffen potenziell ausnahmslos alle Konsument*innen und Nutzer*innen der betreffenden Produkte. Sie bedeuten zum Teil hohe Gesundheitsrisiken, wenn Gefahren in den Lebensmitteln unentdeckt bleiben. In vielen Fällen erfolgen die Rückrufe sehr frühzeitig und damit rechtzeitig, sodass Schaden verhindert oder geringgehalten werden kann. Dennoch steht jeder Rückruf auch in Zusammenhang mit einem Imageschaden für den Hersteller des betroffenen Produkts.
Die Kategorien »Bakterien« und »Fremdkörper im Produkt« lassen in den meisten Fällen einen Rückschluss auf die Fortschrittlichkeit der Produktionstechnik oder menschliches Versagen bei Kontrolle und Hygiene zu. Menschliches Versagen wiederum könnte jedoch durch Innovationen in der Produktionstechnik als Faktor stark reduziert werden. Es herrschen beispielsweise oft schwierige Bedingungen zur Reinigung von Fleischkuttern, oder es fehlt die nötige Sensorik, um Fremdkörper in Echtzeit sicher zu erkennen und aus der Produktion zu entfernen bzw. diese anzuhalten, bis die Fremdkörper entfernt sind.
In der Kategorie »Chemische Substanzen« liegen die Ursachen für deren Anwesenheit (Überschreitung von zulässigen Grenzwerten) häufig in der Produktionsstufe vor der industriellen Verarbeitung, somit in Land- und Viehwirtschaft. Hier wäre beispielsweise eine bessere Unterstützung bei der Behandlung von Pflanzen (Crop Protection) durch entsprechende digitale Entscheidungsunterstützungen, die z. B. angeben können, wann wie viel und welche Pflanzenschutzmittel ausgebracht werden sollen, bereits hilfreich bei der Reduzierung solcher Fälle. Smart Farming bietet dazu eine große Zahl von Optimierungs- und Dokumentationsmöglichkeiten, um eine Grenzwertüberschreitung beispielsweise bereits beim Anbau zu vermeiden oder früh zu erkennen.
Handlungshinweise und Verbesserungspotenziale
In der bestehenden Situation zu Lebensmittelsicherheit liegen erkennbar hohe Potenziale zur Verbesserung der Produktion von Lebensmitteln.
Verbesserungen helfen allen Seiten:
- Konsument*innen sind weniger gefährdet,
- Produzenten haben geringere Kosten durch weniger verlorene Chargen,
- Produzenten haben geringere Imageschäden durch Rückrufe und
- Produzenten vermeiden gleichzeitig auch etwaige Regressansprüche im Fall von gesundheitlichen Schäden bei Konsument*innen.
Maschinenbau, Verfahrenstechnik und moderne Produktionssteuerung mit geeigneter Sensorik und Industrie 4.0 unterstützen die Entwicklung und den Betrieb von sicheren Maschinen für die Lebensmittelproduktion. Bei Bedarf kann Künstliche Intelligenz an sinnvollen Stellen die Sicherheit durch verbesserte Erkennung von Gefahren weiter verbessern. So kann die Produktion flexibler gestaltet und somit schneller und einfacher den Anforderungen an Hygiene und Lebensmittelsicherheit in der Produktion gerecht werden. Dies kann beispielsweise durch Verbesserungen der Hardware zur einfacheren Reinigung oder sensorgestützte und KI-basierte Vorhersage von Reinigungsintervallen erreicht werden. Ebenso lässt sich durch smarte Sensorik (optisch, akustisch oder digital) das Eindringen von Fremdkörpern in die Produktionsabläufe von Lebensmitteln erschweren oder gar ganz vermeiden.
Die Fraunhofer-Allianz Ernährungswirtschaft macht Lebensmittel sicherer – jeden Tag ein Stückchen mehr.
Bei der Gesamtbetrachtung des Themas »Lebensmittelsicherheit« wird deutlich, dass sich etwaige Lösungsansätze aufgrund des sehr großen inhaltlichen Umfangs des Themas viel leichter interdisziplinär umsetzen lassen. Darum vereint die Fraunhofer-Allianz Ernährungswirtschaft die dabei gewonnenen Erkenntnisse von mehr als einem Dutzend Fraunhofer-Instituten unter ihrem Dach. Sie forschen und entwickeln gemeinsam auch an Optimierungspotenzialen im Bereich der Lebensmittelsicherheit und arbeiten in Transferprojekten mit Unternehmen aus der Lebensmittelproduktion zusammen.
Die Möglichkeiten, um Lebensmittelsicherheit entlang der gesamten Produktionskette nachhaltig zu verbessern, sind durch den Einsatz moderner Technologien nahezu unbegrenzt.
Hinzu kommen Möglichkeiten zum Einsatz von Smart-Farming-Technologien, um z. B. bereits während des Pflanzenanbaus die Überschreitung von Grenzwerten chemischer Substanzen zu vermeiden. Um dabei geltende Grenzwerte abzusichern, sind schnelle labortechnische Analysen des Wareneingangs bei Produzenten ein weiterer Aspekt zur Sicherstellung von Lebensmittelsicherheit. Damit sind sie letztlich Gesundheits-, Kosten- und Imageschutz zugleich.
Sie wollen mehr zu den aktuellen Herausforderungen zur Verbesserung von Produktionstechnik für Lebensmittel erfahren und/oder Wünsche zur Erhöhung der Lebensmittelsicherheit äußern?
Sprechen Sie uns an! Unser Business Area Manager »Software & Platform Business«, Michael Ochs, und unsere interdisziplinär agierenden wissenschaftlichen Teams beraten und unterstützen Sie gerne – von der Planung bis zur Umsetzung. Mehr Infos dazu finden Sie hier.