In dieser Blogreihe möchten wir unsere Erfahrungen mit der Anwendung von »Cartooneering« teilen, einer innovativen Methode und Kreativitätstechnik zur Visionsfindung in großen Softwareprojekten. Hierfür werden wir erläutern, in welchem Kontext die Methode entwickelt wurde und welche speziellen Herausforderungen uns begegnet sind.
Kontext der Visionsfindungsmethode und Hintergrund der Blogreihe
Unser methodischer Ansatz, den wir über mehrere Blogbeiträge hinweg vorstellen werden, wurde im Forschungsprojekt Smarte.Land.Regionen initial entwickelt und mehrfach erprobt. Das Ziel von Smarte.Land.Regionen besteht darin, ein Ökosystem für Lösungen der digitalen Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen zu entwickeln. In dieser Blogreihe berichten wir von unseren Erfahrungen damit, wie wir in unterschiedlichen Entwicklungsprozessen digitaler Lösungen mit verschiedensten Akteuren einen Konsens in Form einer gemeinsamen Lösungsvision finden und ausgestalten konnten und wie daraus der Cartooneering-Ansatz entstanden ist.
Die Herausforderung: Viele Stakeholder mit unterschiedlichen Interessen
Wer schon einmal in den Entwicklungsprozess eines Softwareprodukts involviert war, wird die Problematik aus eigener Erfahrung kennen. Gerade zu Beginn steht man häufig vor einem Berg an Herausforderungen. Je nach Ausgangslage beginnt der Prozess bereits damit, nicht nur herauszufinden, welche Funktionen das Produkt bieten muss, sondern zu identifizieren, was für eine Art von Produkt zu entwickeln ist oder welches Problem für die Zielgruppe überhaupt gelöst werden muss. Damit das finale Produkt die Bedürfnisse der Nutzenden erfüllt, ist es wichtig, diese drei Elemente genau zu ermitteln und in die Entwicklung einfließen zu lassen.
Die Anforderungserhebung ist damit eine der herausforderndsten Aufgaben in der Softwareentwicklung. Hierbei müssen verschiedene Aspekte berücksichtigt werden. Beispielsweise sind meist verschiedene Stakeholder im Entwicklungsprozess involviert, welche wiederum eigene Wünsche und Interessen mitbringen, aus welchen sich Anforderungen an die Lösung ergeben. Vor allem in großen Projekten ist es besonders komplex, die Interessen und Wünsche aller Beteiligten zu berücksichtigen und in einem Produkt zusammenzuführen. Diese Herausforderungen werden noch größer, wenn die beteiligten Akteure eine heterogene Gruppe sind. Hierbei sind beeinflussende Faktoren beispielsweise unterschiedliche beteiligte Altersgruppen, Gegebenheiten vor Ort, politische Interessen und vieles mehr. Für das Gelingen eines solchen Projekts ist es also wichtig festzustellen, was die einzelnen Stakeholder gemeinsam haben, um einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Das Finden eines gemeinsamen Nenners erfordert häufig viel Kreativität, da man gegebenenfalls von bestehenden Lösungen und Ideen Abstand nehmen muss, um neue Ideen zu entwickeln, die die unterschiedlichen Ansprüche der Stakeholder möglichst gut in Einklang bringen. Neben den diversen Interessen geht mit vielen Stakeholdern häufig auch die Herausforderung einher, dass die Kenntnisstände der einzelnen Beteiligten sehr verschieden sein können. Dies erschwert die Kommunikation erheblich, sowohl unter den Stakeholdern als auch zwischen den Stakeholdern und der Projektleitung beziehungsweise den Entwickler*innen. War die Findung eines gemeinsamen Nenners erfolgreich und funktioniert die Kommunikation zwischen den Projektbeteiligten, steht die Projektleitung häufig noch vor der besonderen Herausforderung, einzelne Stakeholder von der gemeinsamen Vision zu überzeugen und so einen gemeinsamen Konsens zu schaffen. Dieser ist wichtig, damit bei der Umsetzung der Vision alle vereint an einem Strang ziehen.
Am Beispiel des Forschungsprojekts Smarte.Land.Regionen wird diese Herausforderung sehr deutlich. Im Projekt waren mehrere Landkreise beteiligt, die über das gesamte Gebiet der Bundesrepublik verteilt sind und unterschiedliche Zielgruppen adressieren. Diese Zielgruppen haben wiederum ganz individuelle Interessen und Wünsche. In den Zielgruppen waren Personen mit den unterschiedlichsten fachlichen Hintergründen, von Pädagog*innen bis hin zu Ärzt*innen involviert[1] [2] [3]. Die Ergebnisse des Forschungsprojekts sollen später auch auf andere Regionen übertragbar sein, sodass die entwickelten Lösungen flexibel und anpassbar sein müssen.
Welche bestehenden Methoden gibt es zur Visionsfindung?
Um den genannten Herausforderungen zu begegnen, suchten wir zunächst eine Methode, die ein konkretes Problem als Ausgangslage betrachtet. Aus diesem sollen gemeinsam mit unterschiedlichen Teilnehmenden Szenarien entwickelt werden, die die potenzielle Lösung des Problems zeigen. Ein Kernelement dabei ist, dass alle Teilnehmenden die Vision, die hinter den Szenarien steht, teilen. Hierzu war es von zentraler Bedeutung, die Kommunikation zwischen den Projektbeteiligten zu optimieren und einen gemeinsamen Nenner über die einzelnen Interessen und Bedürfnisse hinweg zu identifizieren.
Um diesen gemeinsamen Nenner zu finden, muss die Methode in der Lage sein, unsere eigene Kreativität sowie die Kreativität der Beteiligten in hohen Maße zu fördern. Der Einsatz von haptischen Elementen sollte die angewendete kreative Leistung weiter verstärken. Zudem sollte die Methode zu einem hohen Grad flexibel und universell einsetzbar sein, um die Teilnehmenden möglichst wenig einzuschränken. Eine weitere Aufgabe besteht darin, eine einheitliche Vision für das Produkt zu kommunizieren. Dafür ist es notwendig, die verschiedenen Ansichten mehrerer Gruppen in eine gemeinsame Vision zu integrieren. Einfache Workshop-Formate reichen oft nicht aus, um die verschiedenen Meinungen der Stakeholder überzeugend zu vereinen.
Anforderungen an einen methodischen Ansatz zur Visionsfindung
- Die Methode muss darauf abzielen, dass die verschiedenen Interessensgruppen nach Durchführung eine gemeinsame Vision haben.
- Die Methode muss die Kommunikation effizient und universell gestalten.
- Die Methode muss das kreative Arbeiten aller Teilnehmenden fördern.
- Die Methode soll sowohl kontextunabhängig einsetzbar sein, um Visionen zu entwickeln, als auch möglichst spezifische Ergebnisse für den jeweiligen Anwendungsfall und dessen Stakeholder produzieren.
- Die Methode muss eine einfache Diskussion über die Inhalte ermöglichen.
- Die dargestellten Ergebnisse der Vision müssen iterativ erweiterbar sein.
- Jede Stakeholdergruppe soll die Erfüllbarkeit der eigenen Bedarfe leicht erkennen.
- Die Darstellung der Ergebnisse muss schnell begreifbar sein und keine fachspezifische Notation verwenden.
- Motivation und Emotion der Akteure müssen deutlich werden.
- Die Methode muss eine einfache Kommunikation der Vision ans Entwicklerteam gewährleisten.
- Die Methode sollte die Interaktionen zwischen verschiedenen Personas abbilden können, um ein umfassendes Bild der Nutzerdynamik zu ermöglichen.
- Die Methode sollte Comic-Strips oder ähnliche visuelle Darstellungen integrieren, die die Nutzererfahrungen vor, während und nach der Nutzung des Systems illustrieren.
In Anbetracht dieser Anforderungen haben wir methodische Ansätze betrachtet, die uns zunächst hilfreich für unser Vorhaben schienen. Da jedoch keiner der bestehenden Ansätze all unsere Anforderungen zufriedenstellend erfüllen konnte, haben wir einen eigenen neuen Ansatz entwickelt, wobei die betrachteten Ansätze als Grundlage dienten. Diese Ansätze lassen sich konkret in vier methodische Stoßrichtungen zusammenfassen, wie in Abbildung 1 dargestellt und im Folgenden zusammengefasst :
- Kreativitätstechniken (z.B. Dark Horse Prototyping, Design the Product Box, Future Success Story)
- Storybuilding-Techniken (z.B. SAP AppHaus Scenes)
- Scribble-basierte Techniken (z.B. Crazy 8’s, Solution Sketch)
- User-Journey-Techniken (z.B. User Journey Mapping)
Auf dem Gebiet der Kreativitätstechniken haben wir bereits umfassende Erfahrungen[4], vor allem wenn es darum geht, den Horizont zu erweitern und neuartige Lösungsideen für Probleme zu entwickeln. Solche Kreativitätsansätze in Workshops sind sehr erprobt. Da wir nicht auf der Suche nach gänzlich neuen Lösungsideen waren, konnten wir diese jedoch nur bedingt verwenden. In den jeweiligen Entwicklungsprozessen mussten wir keine Lösungsvision von Grund auf neu entwickeln, sondern konnten auf bestehende Ideen aufsetzen und diese miteinander vereinen. Unsere Aufgabe bestand hierbei also darin, gemeinsam mit den Stakeholdern Ideen weiterzuentwickeln, sodass sich alle Beteiligten in einer gemeinsamen Lösungsvision wiederfinden konnten.
Die Idee des »Dark Horse Prototyping« ist für unser Vorhaben schon grundlegend ein Ansatz in die richtige Richtung, da mit der Methode aktuelle Situationen grundlegend hinterfragt werden sollen. Jedoch zielt der Ansatz zu sehr auf radikale Innovationen ab und bietet auch keine Möglichkeit, die Kommunikation der Idee zu unterstützen. »Design the Product Box« oder »Success Story in 5 Jahren« hingegen bieten sehr wohl eine gute Möglichkeit, die entwickelte Vision zu kommunizieren und neue innovative Ideen zu entwickeln. Sie unterstützen jedoch nicht unbedingt dabei, unterschiedliche bereits bestehende Ideen zu einer gemeinsamen Idee zu vereinen.
Möchte man bestehende Ideen weiterentwickeln, bietet sich die »Ja, außerdem…-Methode« an. Hierbei wird auf Ideen anderer Teilnehmender eingegangen und diese werden weiterentwickelt. Eine Möglichkeit, gesammelte Ideen strukturiert anhand von Machbarkeit und Originalität zu bewerten, stellt die »How-Wow-Now-Matrix« dar.
Um Lösungsideen anschaulich nachzubilden, bieten sich Storybuilding-Techniken hervorragend an. Hierbei lassen sich mittels vordefinierter Elemente, wie z.B. Papierfiguren, einzelne Szenarien sehr gut darstellen. Bilder erzählen dabei die Interaktion der Nutzenden mit einer Lösung. Auch wenn das Storybuilding im Kern ein hilfreicher Ansatz ist, sind bestehende Methoden durch ihre Vorlagen und Templates stark beschränkt und zu unkonkret, um detaillierte Nutzerszenarien abzubilden. Häufig steht bei Storybuilding-Techniken die Interaktion mit der Lösung im Zentrum des Geschehens. Den Fokus auf die Lösungsinteraktion wollten wir jedoch möglichst reduzieren. Vielmehr wollten wir bei der Visionsfindung auf den Kontext und den Problemraum, in dem sich die Zielgruppe der Lösung bewegt und in dem die Lösung eingesetzt werden soll, fokussieren. Ähnlich dem Ansatz der »Empathy Map« wollten wir die Gefühle, Ängste und Emotionen unserer Zielgruppe mitberücksichtigen, um die Lösung um diese herum zu gestalten. Als sehr freier Gegensatz bieten sich hierzu Scribbles an. Leider ist diese Methode zu abstrakt für das Wiedererkennen der eigenen Idee. Die Flexibilität darin sorgt auch dafür, dass sich Struktur und Inhalt eher als Notizen für Eingeweihte eignen und weniger dafür, mit Personen, die weiter vom Produktteam entfernt sind, zu diskutieren.
User-Journey-Techniken sind Ansätze, die eine Nutzerreise durch die Interaktion entlang sogenannter Touchpoints (Berührungspunkte) mit einem Produkt oder einer Dienstleistung beschreiben. Ein User Journey Mapping stand hierbei nicht zur Option, da dieser Ansatz eine konkrete Lösungsidee voraussetzen würde, welche entlang von Touchpoints beschrieben wird und zu diesem Zeitpunkt schon definiert sein müsste. Wie bereits erwähnt, gab es zwar bereits Lösungsideen, jedoch bestand die Herausforderung darin, eine kreative und gemeinsame Lösungsvision zu gestalten, was einen hohen Grad an Flexibilität erforderte.
Wie geht es weiter mit der Visionsfindungsmethode »Cartooneering«?
Basierend auf diesen grundlegenden methodischen Ansätzen beschlossen wir, die einzelnen Methoden zu einem neuen kreativen Ansatz zu kombinieren. Wir konnten die charakteristischen Elemente der betrachteten Ansätze identifizieren und sie zu einem Ansatz zusammenführen. Dieser bringt an einigen Stellen Verbesserungen mit sich und zeigt besonders bei der gemeinsamen Visionsfindung in einem heterogenen Projektumfeld seine Stärken.
Unsere Entscheidung fiel darauf, eine Mischung aus Proto-Personas und visuellen Geschichten in Form von Comics zu nutzen, wie in Abbildung 2 dargestellt. Dabei lag unser Fokus auf einer klaren Kommunikation und einem anpassbaren, iterativ einsetzbaren Ergebnis. Zentral war zudem die Möglichkeit, den emotionalen Verlauf des Protagonisten von der Problemstellung bis hin zum erfüllenden Zustand durch die Verwendung des zu gestaltenden Produkts anschaulich darzustellen. Diesen Ansatz bezeichnen wir als ‚Cartooneering‘. Er basiert auf einer Reihe von Empfehlungen für die inhaltliche und visuelle Ausgestaltung der Comics, um die Methode einfach anwendbar zu machen
Abbildung 2: Darstellung eines Comics
Dies ist der erste Teil unserer Blogreihe zur Visionsfindungsmethode Cartooneering. Wie genau die Anwendung unserer neuen Methode ausgestaltet ist, an welchen Stellen wir die Methode neben der initialen Visionsfindung noch einsetzen konnten, welche Erfahrungen wir damit gemacht haben und vieles mehr, erfahren Sie in den kommenden Artikeln dieser Blogreihe.
[1] https://www.landkreise.digital/index.php/2021/12/14/workshop-marathon/
[2] https://www.landkreise.digital/index.php/2022/03/10/ergebnisse-workshop-marathon/
[3] https://www.landkreise.digital/index.php/2022/11/24/loesungsidee-gesundheit-pflege/
[4] Weitere Informationen unter https://www.iese.fraunhofer.de/blog/innovation-engineering/