Die Modellierung komplexer Systeme ist anspruchsvoll. Um die Gestaltung Digitaler Ökosystem-Dienste greifbar (Englisch: »tangible«) zu machen, nutzen wir die »Tangible Ecosystem Design«-Methode, bei der wir mit Playmobil®-Figuren Szenarien für die Nutzung Digitaler Ökosystem-Dienste modellieren. Gemeinsames Anfassen vor Ort ist nicht in jedem Projektkontext möglich – zum Beispiel aus logistischen oder finanziellen Gründen. In diesem Blog-Beitrag zeigen wir, wie die gemeinsame Gestaltung von Diensten für digitale Ökosysteme auch in verteilten Teams erfolgreich und mit Freude gelingt, und welche zusätzlichen Vorteile sich aus diesem Ansatz ergeben.
Digitale Ökosysteme
Sie wollen mehr zum Thema Digitale Ökosysteme erfahren? Auf unserer Website »Digitale Ökosysteme, Plattformen und Plattformökonomie« erhalten Sie umfassende Informationen.
Digitale Ökosysteme zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch Digitale Ökosystem-Dienste verschiedene Beteiligte (sowohl Unternehmen als auch Personen), nachfolgend Ökosystem-Teilnehmer genannt, digital miteinander vernetzen und durch ihr Zusammenwirken im Ökosystem-Dienst einen gegenseitigen Nutzen erzielen.
So vermittelt beispielsweise der Amazon–Marktplatz Waren von Verkäufern an interessierte Käufer. Ebenfalls von Amazon wird »Audible« angeboten. Dieser Ökosystem-Dienst vernetzt Anbieter von Hörbüchern und Hörer derselben miteinander. Amazon bietet in seinem Digitalen Ökosystem auch Ökosystem-Dienste an, die in direkter Beziehung zueinander stehen: Ein Hörer, der ein Musikstück in einem über Amazon Video angesehenen Film hört, kann dieses direkt über Amazon Music kaufen. Nicht nur in der Unterhaltungsbranche ist der Trend zu Digitalen Ökosystemen zu beobachten: Airbnb vernetzt private Anbieter mit Reisenden; Uber bringt private Fahrer mit Passagieren zusammen. Vermehrt setzt auch das Business-to-Business-Umfeld darauf, neue Geschäftsmodelle auf Basis Digitaler Ökosysteme aufzubauen. Die Beziehungen unter den Ökosystem-Teilnehmern sind oftmals komplex. Gleichzeitig ist ein tiefgreifendes Verständnis für das Zusammenspiel zwischen den Ökosystem-Teilnehmern erforderlich, um einen Digitalen Ökosystem-Dienst zu gestalten, der den erwarteten Nutzen tatsächlich erzielt.
Digitale Ökosysteme modellieren mit der »Tangible Ecosystem Design«-Methode
Wie wir festgestellt haben, ist es von zentraler Bedeutung, dass der Nutzen, den alle Ökosystem-Teilnehmer aus der Teilnahme am Digitalen Ökosystem ziehen, ganz klar sein muss. Um diesen herausarbeiten zu können, müssen Beziehungen der Ökosystem-Teilnehmer untereinander verstanden werden: Welche Güter und Daten werden ausgetauscht? Welche Verträge schließen sie ab? Wie sehen die jeweilige Vergütung von Transaktionen und das gesamte Geschäftsmodell aus?
Das bildliche Veranschaulichen komplexer Zusammenhänge erleichtert ihr Verständnis. Nicht ohne Grund erfreuen sich grafische Prozessmodelle oder Architekturdiagramme im Software Engineering großer Beliebtheit und werden vielfach angewendet. Ergänzt werden kann dies durch das physische Zusammenstellen von Modellierungselementen in der realen Welt, um Modelle »anfassbar« zu machen.
Daher haben wir die »Tangible Ecosystem Design«-Methode (kurz: TED) entwickelt, bei der wir Figuren, Autos und Gegenstände von Playmobil® zusammen mit einer Reihe von Druckvorlagen nutzen, um einen Digitalen Ökosystem-Dienst zu modellieren. Im Rahmen von Workshops stellen wir Nutzungsszenarien und Geschäftsmodellaspekte dar, um so komplexe Zusammenhänge im Digitalen Ökosystem zu veranschaulichen.
Mehr zu TED können Sie im Online-Seminar Design Digitaler Ökosysteme erfahren.
Service Blueprint
Um zu modellieren, wie die Ökosystem-Teilnehmer miteinander interagieren, sieht die »Tangible Ecosystem Design«-Methode die Gestaltung eines Ablaufdiagramms, eines sogenannten Service Blueprints, vor. Dieses beinhaltet die Abbildung von Prozessen auf vier verschiedenen Ebenen:
1 Aktivitäten der Ökosystem-Teilnehmer, die auch gänzlich ohne ein technisches System auskommen,
2 Interaktionen der Teilnehmer mit den Systemen,
3 Systemaktivitäten im Hintergrund, die von Menschen nur indirekt wahrgenommen werden, sowie
4 zugehörige Nicht-IT-Voraussetzung zur Erbringung des Digitalen Ökosystem-Dienstes. Dieser Prozess wird nicht nur textuell notiert, sondern mit einem Fundus an Playmobil®-Spielzeugen dargestellt.
Service Map
Im Anschluss werden die Beziehungen zwischen den Ökosystem-Teilnehmern auf einer sogenannten Service Map näher betrachtet. Hierzu werden Playmobil®-Fahrzeuge und -Figuren, die die jeweiligen Organisationen beziehungsweise einzelne Personen im Digitalen Ökosystem-Dienst repräsentieren, aufgestellt. Diesen werden jeweils feste Rollen zugewiesen, wie die des Anbieters eines Guts oder die des Konsumenten jenes Guts. Die Fahrzeuge und Figuren werden auf einer beschreibbaren Fläche platziert, um verschiedene Typen von Beziehungen zwischen den Ökosystem-Teilnehmern einzuzeichnen: Der Austausch von Gütern (z.B. Filmen bei Amazon Video) und Daten (z.B. Bewertungen von Filmen), die Transaktion von Geld (z.B. die Abogebühr für Konsumenten von Videos) und das Schließen von Verträgen (z.B. der Nutzungsvertrag zwischen Konsumenten und Amazon).
Motivation Matrix
Abschließend wird bei der »Tangible Ecosystem Design«-Methode für einen Digitalen Ökosystem-Dienst in einer sogenannten Motivation Matrix für jeden Ökosystem-Teilnehmer definiert, welchen Nutzen er von der eigenen Teilnahme und der Teilnahme anderer am Digitalen Ökosystem-Dienst hat.
Digitale Ökosysteme im virtuellen Raum modellieren
Die Erfahrungen mit der Tangible Ecosystem Design (TED)-Methode zur Veranschaulichung digitaler Ökosystem-Dienste waren in den vergangenen Jahren durchweg positiv. Mit den Veränderungen in der Arbeitswelt nach der Corona-Pandemie, die zunehmend flexible Arbeitsmodelle wie Remote-Arbeit von zu Hause aus ermöglichen, sowie der Einbindung verschiedener Stakeholder – beispielsweise Personen mit eingeschränkter Mobilität (Barrierefreiheit) oder solchen, die geografisch weit entfernt leben – wird es jedoch immer wichtiger, die TED-Methode auch virtuell anzubieten.
Das Ziel ist es, die kollaborative Gestaltung zukünftiger Nutzungsszenarien und Geschäftsmodellaspekte sowie deren grafische Visualisierung in einer Online-Variante so interaktiv und benutzerfreundlich wie möglich zu gestalten – auch wenn ein gemeinsames „Anfassen“ im physischen Sinne nicht möglich ist.
Als Grundlage der Zusammenarbeit dient ein digitales Whiteboard, in unserem Fall »Miro«. Alternativ wären jedoch auch andere Tools wie »Mural« oder »FigJam« geeignet. Diese Online-Werkzeuge ermöglichen es, in Echtzeit mit mehreren Workshop-Teilnehmern gemeinsam auf einer virtuellen Arbeitsfläche Elemente zu platzieren, zu beschriften und zu bearbeiten.
Um die Brücke zur physischen Welt zu schlagen, sollen die digitalen Elemente möglichst originalgetreu die in der realen Welt verwendeten Figuren und Objekte nachbilden. Dadurch bleibt die intuitive und spielerische Herangehensweise der TED-Methode auch im virtuellen Raum erhalten und unterstützt eine nahtlose Übertragung der Methodik in die digitale Zusammenarbeit. Daher haben wir eine (stetig wachsende) Bilderbibliothek aus verschiedensten Playmobil®-Gegenständen zusammengestellt. Aus dieser nach Themen gruppierten Sammlung können sich Workshop-Teilnehmer bedienen, um Abläufe zu veranschaulichen. Zusätzlich sind Elemente, die in der Methode eine feste Bedeutung haben, beispielsweise die Fahrzeuge als Repräsentation bestimmter Rollen, ebenfalls digital vorhanden.
In der praktischen Anwendung wurde nicht nur die Bibliothek vorbereitet, sondern auch jeweils ein digitales Whiteboard für den Service Blueprint, die Service Map und die Motivation Matrix erstellt. Die Ausdrucke, die für den realen Workshop genutzt werden, konnten wir direkt als Vorlage im digitalen Workshop nutzen. Entscheidend ist hierbei, dass mehrere Leute unmittelbar gleichzeitig am Geschehen teilnehmen können. Das heißt, eine Person kann ein Element in den Service Blueprint platzieren und eine weitere direkt daneben einen erklärenden Notizzettel beschriften.
Digitale Ökosysteme virtuell modellieren mit der »Tangible Ecosystem Design«-Methode: Erfahrungen und Lehren des Fraunhofer IESE
Fokus und Aufmerksamkeit
Die virtuelle Modellierung eines Digitalen Ökosystem-Dienstes setzt voraus, dass die Teilnehmer des digitalen Workshops mit den Werkzeugen, in unserem Fall Miro, vertraut sind oder vertraut gemacht werden. Eine gewisse Lernkurve ist nötig, bis das Kopieren, Einfügen und Beschriften von Elementen schnell und fehlerfrei bei allen funktioniert. Die Erfahrungen aus unserem Workshop zeigen, dass sich die Teilnehmer schon nach kurzer Zeit auf die Modellierung konzentrieren konnten. Wir beobachteten einen starken Fokus auf die inhaltliche Ausgestaltung dadurch, dass alle Playmobil®-Spielzeuge auf dem virtuellen Whiteboard für alle gut sichtbar waren und weniger Raum für das »Spielen« und »Suchen« verstrichen ist. Wir beobachteten durch die digitale Zusammenarbeit eine fokussierte Arbeitsweise der Workshop-Teilnehmer.
Auch konnte die Aufmerksamkeit der Workshop-Teilnehmer direkt auf eine bestimmte Stelle gelenkt werden, indem Funktionalitäten des virtuellen Whiteboards, wie das Folgen des Mauszeigers einer Person oder das »zu sich holen« aller Teilnehmenden auf die aktuelle Ansicht, genutzt werden. Durch die Darstellung aller Mauszeiger der Teilnehmer konnte zudem zumindest erahnt werden, an welcher Stelle sie sich gerade aufhielten und worüber gesprochen wurde. Im realen Workshop kann es je nach Anzahl der Teilnehmenden und der Raumgröße schwierig werden, einen gleich guten Einblick zu bekommen. Im digitalen Workshop gelang es uns, die Aufmerksamkeit der Teilnehmer im digitalen Raum auf das aktuell Relevante zu lenken.
Gestaltung und Darstellung
Wie bereits erwähnt, wurden die Playmobil®-Spielzeuge, die üblicherweise in einem physischen Workshop zur Modellierung genutzt werden, digitalisiert und in Kategorien einsortiert. Diese Organisation erleichterte es in unserem Workshop, passende Elemente für die jeweilige Szene schnell und gezielt auszuwählen. Außerdem konnten die Figuren durch ihre digitale Darstellung beliebig kombiniert und in Größe, Ausrichtung oder Positionierung verändert werden, da sie keinen physischen Limitationen ausgesetzt sind. Im Hinblick auf die gesamte Modellierung mit einer Vielzahl von Elementen konnten selbst großflächige Änderungen, die sich im Rahmen kreativer Arbeit zwangsläufig ergeben, leicht durchgeführt werden, ohne händisches Umarrangieren einzelner Figuren oder das Neuzeichnen von Verbindungen.
Als Vorteil der digitalen Repräsentation der Spielzeuge empfanden wir die Tatsache, dass dieselben Figuren im digitalen Raum unendlich oft zur Verfügung stehen und folglich immer wieder verwendet werden können. Dies gilt nicht nur für einzelne Elemente, sondern auch für ganze Arrangements, die somit auch leicht kopiert und wiederverwendet werden können.
Nichtsdestotrotz haben wir in unserem Workshop beobachtet, dass einzelne Schritte im Service Blueprint nicht so reichhaltig illustriert wurden, wie wir es in physischen Workshops bereits erlebt haben. Wir vermuten, dass solche Workshops vor Ort mehr zum »Spielen« einladen.
Schließlich machten wir in unserem Workshop die Erfahrung, dass digitale Beschriftungen und verschiebbare Pfeile im Vergleich zur analogen Durchführung die Lesbarkeit und Übersichtlichkeit der erarbeiteten Modellierungen deutlich verbessern. Außerdem profitierte unser Projekt, in dessen Rahmen der Workshop durchgeführt wurde, von der erleichterten Dokumentation und Weiterverwendung der Ergebnisse, die durch die Online-Durchführung erzielt werden konnte. Da alle Inhalte bereits digital vorliegen und keine Fotos oder Abschriften angefertigt werden müssen, ist die Dokumentation mit wenigen Klicks geschehen. Die Modellierungsergebnisse stehen ohne Verzögerung zur Weiterverarbeitung bereit, etwa zur Entwicklung von Geschäftsmodellen oder zur Konzeption der technischen Systeme. Demgegenüber kann eine klassische Fotodokumentation viele Stunden Arbeit kosten. Dies gilt vor allem, wenn die Modellierungen auf Basis der Fotos digital nachgebaut werden müssen, um sie weiterzuverwenden.
Teilnahme und Workshop-Durchführung
Dennoch stellten wir in unserem Workshop fest, dass nicht alle Teilnehmer gleichermaßen aktiv an den Diskussionen partizipierten. Im Vorfeld wurde eine lose Aufgabenverteilung der Teilnehmer besprochen. So sollten sich die Teilnehmer auf unterschiedliche Bereiche der Modellierung fokussieren. Es stellte sich aber heraus, dass die Modellierung sehr linear verlief und die separaten Aufgaben zumindest initial kaum Beachtung fanden. Vorteilhaft daran war, dass alle darüber im Bilde waren und wussten, an was gerade gearbeitet wird, sodass sich nicht mehrere inhaltliche Stränge gleichzeitig bildeten. Um allerdings für noch mehr Zusammenarbeit zu sorgen, lohnt es sich, vor jeder Übung nochmals die Verantwortlichkeiten explizit zu machen und diese auch auf dem Online-Whiteboard visuell zu vermerken.
Während physische Vor-Ort-Workshops zeitlich eng getaktet sind, konnten wir uns für unseren Online-Workshop deutlich mehr Zeit für die Erarbeitung der einzelnen Darstellungen des Digitalen Ökosystem-Dienstes nehmen. In der Folge wurden die Inhalte detaillierter dargestellt, was jedoch nicht einen generellen Schluss auf Online-Workshops zulässt. Vielmehr erlaubte uns die freiere zeitliche Gestaltung, während des Workshops die Techniken teilweise anzupassen und von den Teilnehmern für das Online-Format weiterentwickeln zu lassen. Insbesondere wurde der Service Blueprint um neue Elemente ergänzt, wie z.B. die Unterteilung der verschiedenen Ebenen der Aktivitäten (Benutzeraktivitäten, Interaktionen und Systemaktivitäten) in weitere separate Bereiche für die verschiedenen Ökosystem-Teilnehmer und involvierten Systeme. Eine solch detaillierte Beschreibung des Service Blueprint wäre in einem physischen Workshop aufgrund der üblichen Platzbeschränkungen nicht machbar gewesen.
Ausblick für die »Tangible Ecosystem Design«-Methode zur Modellierung von digitalen Ökosystemen
Die Anwendung der »Tangible Ecosystem Design«-Methode in einem Online-Workshop lieferte uns neben den geschilderten positiven Erfahrungen auch wertvolle Hinweise für die Weiterentwicklung der Methode. Diese Erkenntnisse setzen wir um, indem wir unsere digitalen Vorlagen anpassen und sie künftig auch in physischen Workshops nutzen werden. Ein Beispiel hierfür liefert die nun gewonnene Erkenntnis zur Erweiterung unserer Service Blueprints um ausgewählte Elemente.
Insgesamt stellen wir auf Basis unseres Online-Workshops fest, dass neben der Vor-Ort-Durchführung von TED-Workshops die Online-Variante eine gewinnbringende Alternative darstellt, um verteilt an Digitalen Ökosystemen zu arbeiten. Insbesondere hilft uns das uneingeschränkte Arbeiten im digitalen Raum dabei, Aspekte eines Digitalen Ökosystem-Dienstes im Detail auszuarbeiten und für weitere Software-Engineering-Aktivitäten zu dokumentieren.
Möchten auch Sie gemeinsam mit uns Ihren Ökosystem-Dienst erarbeiten oder analysieren und Ihr Digitales Ökosystem modellieren?
Dann melden Sie sich dazu gerne bei uns. Wir finden einen Termin – analog oder digital.
Tipps zum Arbeiten mit Miro
Sperren von Vorlagen & der Bibliothek:
Um das versehentliche Verschieben von Elementen, die als Hintergrund dem Strukturieren der Whiteboard-Fläche dienen, zu verhindern, sollten diese gesperrt werden.
Die Sammlung von Figuren zur Modellierung sollte ebenfalls gesperrt werden. Das hilft, dass keine Figuren von dort verlorengehen, weil sie versehentlich weggenommen werden. Stattdessen sollten Elemente immer kopiert werden. Dies erlaubt Miro auch, wenn sie gesperrt sind.
Fokus holen:
Miro bietet die Möglichkeit, alle Teilnehmer zum eigenen sichtbaren Bildausschnitt zu holen. Der Moderator kann dies nutzen, um die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Bereich zu lenken.