Digitalisierung auf dem Land (DESIRA)

Digitalisierung auf dem Land: Digitaler Wandel für Verwaltung und Bevölkerung mit DESIRA

In vielen Regionen Europas sind ländliche Räume mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. Diese beinhalten unter anderem eingeschränkte Jobperspektiven und Bildungsangebote, begrenzte Leistungen im Nahverkehr oder bei der medizinischen Versorgung sowie eine unterdurchschnittliche digitale Infrastruktur. Dabei bietet die Digitalisierung große Potenziale, das Leben auf dem Land attraktiver und nachhaltiger zu gestalten.

An diesem Punkt setzt das Fraunhofer IESE mit dem Projekt DESIRA an und identifiziert Handlungsoptionen für die Gestaltung der digitalen Transformation in ländlichen Kommunen. In Zusammenarbeit mit der Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain werden in einem Living Lab Ursachen und Auswirkungen des digitalen Wandels untersucht, um mögliche Lösungsszenarien für ländliche Regionen zu entwickeln.

Die Aktivitäten des Fraunhofer IESE im Living Lab Betzdorf-Gebhardshain sind Teil des EU-Horizon-2020-Projekts DESIRA. DESIRA steht für »Digitisation: Economic and Social Impacts in Rural Areas«, d. h. das Projekt setzt sich mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen der Digitalisierung auf dem Land auseinander. Das Projektkonsortium besteht aus 25 Forschungsinstituten, Nichtregierungsorganisationen sowie kleinen und mittelständischen Unternehmen aus ganz Europa. DESIRA hat zum Ziel, die Fähigkeiten von Gesellschaft und Politik zu verbessern, was den Umgang mit Herausforderungen der Digitalisierung in der Landwirtschaft, der Forstwirtschaft und in ländlichen Räumen im Allgemeinen angeht.

Digitalisierung auf dem Land und die Rolle der Verwaltung

Lokale Verwaltungen sind wichtige Institutionen im ländlichen Raum, denen eine zentrale Rolle bei der Digitalisierung auf dem Land zukommt. Vor diesem Hintergrund adressiert das Living Lab in Betzdorf-Gebhardshain folgende Forschungsfrage: »Wie kann die lokale Verwaltung den internen und externen Herausforderungen der Digitalisierung auf dem Land begegnen und welche Auswirkungen ergeben sich daraus für die beteiligten Akteure?«

Eine der wesentlichen externen Herausforderungen besteht aktuell im Online-Zugangsgesetz (OZG), das Verwaltungen und Behörden verpflichtet, eine Vielzahl an Leistungen bis Ende 2022 digital anzubieten. In der Konsequenz können z. B. Transaktionen, bei denen die Bürger*innen im Moment noch persönlich im Rathaus erscheinen müssen, zukünftig online erfolgen. Was allerdings die Umsetzung angeht, lässt das Gesetz den Kommunalverwaltungen viele Handlungsspielräume.

Daneben stellen sich Kommunalverwaltungen auch internen Herausforderungen. Dazu gehört z.B. die Bereitstellung von Ressourcen, um eine angemessene Ausstattung an Personal und Technik sicherzustellen. Außerdem muss das Verwaltungspersonal über die notwendigen Digitalkompetenzen verfügen und entsprechend weiterentwickelt werden. Schließlich formulieren auch Bevölkerung, Wirtschaft und andere Akteure im ländlichen Raum zunehmend ihre Erwartungen an eine zeitgemäße Verwaltung mit modernen Dienstleistungen.

Ausgangsbedingungen im Living Lab Betzdorf-Gebhardshain

Die Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain liegt im Landkreis Altenkirchen im Norden von Rheinland-Pfalz. Sie besteht aus 17 Ortsgemeinden, in denen insgesamt 26.051 Einwohner*innen leben. Die traditionelle Prägung durch Eisenbahnindustrie und Bergbau ist heute noch zu spüren, denn der sekundäre Wirtschaftssektor ist in der Region nach wie vor vergleichsweise stark ausgeprägt. Zwischen 2008 und 2018 hat die Bevölkerung zudem um 3,1 Prozent abgenommen – in der Altersgruppe der unter 20-Jährigen ist sogar ein Rückgang um 15,0 Prozent zu verzeichnen.

Was die aktive Gestaltung des digitalen Wandels angeht, bringt die Verbandsgemeinde Betzdorf-Gebhardshain hingegen sehr gute Voraussetzungen mit. Verglichen mit anderen Kommunen im ländlichen Raum ist der Ausbau der digitalen Infrastruktur weit fortgeschritten. Die Stadt Betzdorf selbst stellt für 100 % der Haushalte Breitbandanschlüsse mit mindestens 50 Mbit/s und für 80 % der Haushalte sogar 200 Mbit/s bereit. Außerdem verfügt die Stadt über ein 5G-Mobilfunknetz und kostenlose Wi-Fi-Spots im öffentlichen Raum. Zwar weisen nicht alle Ortschaften der Verbandsgemeinde diese Ausgangsbedingungen auf, aber dennoch kann man im Wesentlichen von einer gut ausgebauten digitalen Infrastruktur sprechen.

Außerdem ist die Verbandsgemeinde seit 2015 eine von drei Modellkommunen in dem rheinland-pfälzischen Projekt »Digitale Dörfer«, in dem smarte Lösungen für den ländlichen Raum entwickelt werden. In diesem Zusammenhang entstanden u. a. die Webplattform »DorfNews« und die Smartphone-App »DorfFunk«. Diese Tools ermöglichen den Austausch der Bürger*innen untereinander und machen aktuelle Informationen aus der Region verfügbar. 2019 wurde die Digitale-Dörfer-Plattform in Betzdorf-Gebhardshain zudem um die Webanwendung »LösBar« erweitert, die die Interaktionen zwischen der Verbandsgemeindeverwaltung und der Bevölkerung intensiviert. Zudem verstärkten COVID-19-Restriktionen die Digitalisierung der Kommunikation zwischen Bevölkerung, Verwaltung und Wirtschaft (z. B. E-Commerce) in Betzdorf-Gebhardshain.

Bisherige Auswirkungen der Digitalisierung

Die zentrale Aufgabe des Fraunhofer IESE im Rahmen der ersten Projektphase von DESIRA bestand in der Analyse der bisherigen Entwicklungen und Auswirkungen der Digitalisierung in Betzdorf-Gebhardshain sowie der daraus resultierenden Bedürfnisse. Zu diesem Zweck wurden Experteninterviews in der Verbandsgemeinde geführt, vorliegende sozioökonomische Daten ausgewertet und eine Online-Befragung vollzogen. Zudem fand ein zweiteiliger Online-Workshop mit Bürger*innen sowie Mitarbeitenden der Verwaltung statt.

Eines der dabei erzielten wesentlichen Forschungsergebnisse besteht in der Modellierung von Betzdorf-Gebhardshain als »Socio-Cyber-Physical System« (SCPS). In dem SCPS werden unterschiedliche Akteure bzw. Organisationen und Prozesse auf sozialer, technischer und physischer Ebene zueinander in Beziehung gesetzt. Für das Living Lab in Betzdorf-Gebhardshain wurde dabei der Fokus auf den Austausch zwischen öffentlichen (Verwaltung, Lokalpolitik) und privaten (Bürger*innen, Unternehmen) bzw. zivilgesellschaftlichen Akteuren (Vereine, Wohlfahrtsorganisationen) gelegt (siehe Abbildung 1). Diese treten in der physischen und in der digitalen Welt miteinander in Kontakt, wobei Verwaltungsleistungen, Daseinsvorsorge wie auch allgemeinere Formen des Austauschs eine Rolle spielen. Dabei werden digitale Werkzeuge wie Informations- und Verwaltungsdienste sowie interaktive Dienste zunehmend relevanter.

 

Anhand dieses Modells lassen sich die bisherigen Auswirkungen der Digitalisierung auf dem Land klar aufzeigen. Zu den wichtigsten positiven Aspekten gehören schnellere Dienstleistungen, ein höherer Komfort sowie ein Mehr an Interaktion und Flexibilität, die von den Endnutzer*innen bereits heute erfahren werden. So kann die Verfügbarkeit digitaler Dienste die kommunale Verwaltung stärken und effektiver machen.

Negative Effekte beziehen sich auf die Verringerung der persönlichen Kontakte mit der Kommunalverwaltung und auf höhere Risiken, was Inkonsistenzen von Informationen angeht, die über verschiedene Kanäle bereitgestellt werden. Außerdem verteilen sich die Vorteile digitaler Werkzeuge und Dienstleistungen ungleich über die Zielgruppen hinweg, wobei Alter, Digitalaffinität, sozioökonomischer Status und digitale Konnektivität als relevante Aspekte bestimmt wurden.

Diese positiven und negativen Auswirkungen der Digitalisierung auf dem Land lassen sich durch unterschiedliche Faktoren erklären. So hat 1) die Gestaltung digitaler Lösungen, an denen Nutzer*innen aktiv mitwirkten und bei denen die Nutzerfreundlichkeit einen hohen Stellenwert hat, positive Effekte. Ebenfalls relevant ist 2) ein einfacher Zugang. Eine gute und flächendeckende digitale Infrastruktur (sowohl bezogen auf Konnektivität als auch auf Hardwareausstattung) stellt eine notwendige Ausgangsbedingung dar. Eine offene Informationspolitik und adäquates Marketing erleichtern ebenfalls den Zugang zu digitalen Diensten. Ein weiterer Faktor besteht 3) in der Systemkomplexität. Aus der Verfügbarkeit mehrerer Anwendungen, deren Funktionalitäten sich überschneiden, können sich negative Auswirkungen ergeben. Demgegenüber stellt die Digitale-Dörfer-Plattform einen modularen Baukasten dar, der eine an den Kontext angepasste Auswahl von Lösungen erlaubt.

Winners and Losers der Digitalisierung auf dem Land

Im Idealfall bietet die Digitalisierung gerade auf dem Land die Möglichkeit, die Menschen leichter und schneller miteinander zu verbinden. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass nicht alle in gleichem Maß von ihr profitieren. Gründe hierfür können eine mangelnde Ausstattung, geringe Konnektivität in peripheren Regionen, aber auch geringe Affinität oder Akzeptanz sein. Deshalb wird die Digitalisierung vor allem dann kritisch gesehen, wenn die Teilhabe nicht sichergestellt ist und ganze Personengruppen ausgegrenzt werden.

Interessanterweise wurden einige Personengruppen sowohl als Gewinner*innen als auch als Verlierer*innen der Digitalisierung auf dem Land gesehen, allen voran Menschen mit Behinderungen und Ältere. In beiden Fällen bieten einfach zu bedienende Dienste Mehrwerte. Umgekehrt können sie möglicherweise nicht teilhaben, wenn digitale Lösungen nicht nach ihren Bedürfnissen gestaltet sind (z. B. in Bezug auf Barrierefreiheit). Eine Erklärung, warum gerade ältere Menschen im Workshop sowohl als Gewinner*innen als auch als Verlierer*innen und Gegner*innen der Digitalisierung identifiziert wurden, sahen einige Teilnehmer*innen des Workshops darin, dass Digitalisierung keine Frage des Alters ist, sondern vielmehr eine Frage der Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen.

Zentrale Aspekte für den weiteren Prozess der digitalen Transformation in der lokalen Verwaltung – und darüber hinaus

Aus den bisherigen Aktivitäten im DESIRA-Living Lab in Betzdorf-Gebhardshain lassen sich folgende Ergebnisse ableiten: Neue Kommunikationsdienste in ländlichen Räumen schaffen Mehrwerte, da sie den Austausch intensivieren und Informationsflüsse beschleunigen. Andererseits profitieren noch nicht alle Menschen in gleichem Maß von diesen Entwicklungen, da Ungleichheiten hinsichtlich der Kompetenzen, Akzeptanz oder auch Konnektivität sowie Ausstattung mit adäquaten Endgeräten bestehen. Folgende Punkte sind daher von wesentlicher Bedeutung für den weiteren Verlauf der digitalen Transformation in ländlichen Regionen:

  • Einbindung und Beteiligung aller gesellschaftlichen Gruppen: Alle Generationen müssen angesprochen werden – ältere Menschen ebenso wie Jugendliche. Dies kann beispielsweise durch die Einbindung von Schulen und Einrichtungen der Erwachsenenbildung geschehen. Des Weiteren sollte die Bevölkerung motiviert werden, an der digitalen Transformation mitzuwirken und die Möglichkeit erhalten, aktiv mitzuentscheiden.
  • Skepsis in der Bevölkerung abbauen: Die Vorteile digitaler Technologien müssen hinreichend erklärt werden, um Widerstände und Ängste zu überwinden. Deshalb ist es wichtig, dass jede Verwaltungsleistung, die in der Kommunalverwaltung digital erbracht wird, alternativ auch analog erbracht werden kann. Das sorgt für Vertrauen, bis sich auch Skeptiker an die digitalen Prozesse in der Verwaltung gewöhnt haben.
  • Transparenz: Die Digitalisierung sollte grundsätzlich transparent für alle Bürger*innen gestaltet sein. Dazu gehört auch die Vertrauenswürdigkeit der Datennutzung und -verarbeitung: Man muss nachvollziehen können, zu welchem Zweck Daten digital verarbeitet werden und wie die Datensicherheit sichergestellt wird.
  • Usability: Zu guter Letzt müssen positive Nutzererfahrungen mit digitalen Diensten sichergestellt werden.

Im weiteren Verlauf von DESIRA geht es nun darum, diese Erkenntnisse um mögliche Lösungsansätze zu erweitern. Dazu werden in weiteren Workshops Zukunftsszenarien erarbeitet und ein konkreter Use Case für das Living Lab in Betzdorf-Gebhardshain definiert.

Wenn Sie noch weitere Informationen zu DESIRA wünschen und/oder Fragen zum Projekt haben, so wenden Sie sich gerne an: Dr. Matthias Berg oder Christof Schroth