Die Uhr tickt. Mit jeder Sekunde wächst die Weltbevölkerung, doch gleichzeitig nimmt die landwirtschaftliche Nutzfläche ab. Das bedeutet: Wir müssen in der Lage sein, immer mehr Menschen zu ernähren, während jedoch Ressourcen wie Wasser und Nahrung immer knapper werden. Diese Problematik wird sich in Zukunft noch verschärfen, wie der Wirtschaftsverband CEMA betont: “We will need to produce more food in the next 50 years than we did in the past 10.000 years.” Die Lösung für diese Herausforderung könnte Agrikultur 4.0 heißen. Was dies genau bedeutet, erläuterte Dr. Pablo Oliveira Antonino bei einem Vortrag in São Paulo, Brasilien, im Rahmen der Veranstaltung „Agro 4.0 – Digitization in the Field“ der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer am 13.08.2018. Dr. Pablo Oliveira Antonino im Interview:
Was genau versteht man denn unter Agrikultur 4.0?
Dazu muss man einen Blick auf die Entwicklung der Landwirtschaft werfen, die sich in vier Phasen gliedert: Die erste Phase, also Agrikultur 1.0, begann im 19. Jahrhundert. Dabei wurden die Geräte noch manuell bedient und bspw. durch Pferde gezogen. Die Agrikultur 2.0 setzte Ende der 1950er Jahre/Anfang der 1960er Jahre ein und zielte auf eine verbesserte Performanz des Feldes hin. Charakteristisch für die Agrikultur 2.0 ist dabei der erstmalige Gebrauch von Pestiziden. Seit diesem Zeitpunkt hat sich die Landwirtschaft in Richtung eines Agrobusiness entwickelt. Mit dem Einsatz von GPS- und Navigationssystemen setzte in den 1990er Jahren schließlich die Agrikultur 3.0 ein. Offiziell befinden wir uns noch am Ende dieser Periode, wobei die Planungsphase der Agrikultur 4.0 bereits eingesetzt hat. Dabei soll die Kombination von Software und Elektronik landwirtschaftliche Aufgaben vereinfachen. Unter dem Motto „Precision Farming“ geht es darum, mit weniger Ressourcen mehr zu produzieren. Dabei sind Themen wie Big Data, Autonomes Fahren und KI-Systeme von besonderer Bedeutung, denn sie zeigen der Landwirtschaft ganz neue Möglichkeiten auf.
Wie kann man sich diese Zukunft in der Praxis vorstellen?
Einer der großen Vorteile von Agrikultur 4.0 ist der Einsatz von Softwaresystemen. Diese ermöglichen es, Schwachstellen eines landwirtschaftlich bewirtschafteten Felds zu erkennen. Gerade für Länder wie Brasilien, wo Farmen sich oft über viele Quadratkilometer erstrecken, ist dies von enormer Bedeutung. Denn der Einsatz von Kameras, Drohnen und KI-Systemen ermöglicht eine spezifische Diagnose schlechter bewirtschafteter Stellen im Feld. Nach der Übermittlung dieser Daten an das System können die Landwirtschaftsgeräte nun fokussiert an einzelnen Stellen eingesetzt werden. So werden keine Ressourcen verschwendet, da eine ganz präzise Anpassung an die Anforderungen des Felds erfolgen kann. Agrikultur 4.0 bedeutet demnach nicht nur eine Verbesserung der landwirtschaftlichen Performanz des Feldes, sondern ermöglicht zudem auch enorme Material- und Kosteneinsparungen.
Inwiefern spielt dabei das Fraunhofer IESE eine wichtige Rolle?
Das Fraunhofer IESE setzt an der Schnittstelle von Elektronik und Software ein. Unser Ziel ist es, den Status Quo der Architektur einer Maschine zu verstehen, um daraus Anforderungen für autonome Systeme abzuleiten und bei deren Entwicklung zu unterstützen. Dabei stützen wir uns sowohl auf interne Forschungen als auch auf die langjährige Zusammenarbeit mit unserem Kooperationspartner John Deere. Im Rahmen verschiedener Projekte arbeiten wir daran, Precision Agriculture zu ermöglichen. Dabei ist Software und deren Integration in Elektronik ein wichtiger Bestandteil, um die Anforderungen eines Feldes erkennen zu können.
Woraus bestand Ihr Beitrag zur Veranstaltung?
Ich wollte das Thema Agrikultur 4.0 in unterschiedlicher Hinsicht betrachten. Dazu gliederte sich mein Vortrag in zwei Teile: Im ersten ging ich auf die Trends und Technologien von Agrikultur 4.0 ein. Ein Highlight war es, die Zusammenarbeit zwischen dem Fraunhofer IESE und John Deere genauer zu beleuchten. Eine zentrale Fragestellung dabei lautete: Wie können wir unsere Erkenntnisse aus dem Automobilsektor mit den zukünftigen Anforderungen an die Landwirtschaft vereinen? Neben diesen technischen Herausforderungen ging es um konkrete Praxisfälle und Erfahrungen mit unserem Kooperationspartner John Deere. Im zweiten Teil meines Vortrags ging ich dann auf Anforderungen für Aufgaben im Feld und für das Monitoring ein.
Was waren Ihre Erwartungen an die Veranstaltung?
In erster Linie erhoffte ich mir, meine Kenntnisse über die Branche erweitern zu können. Was genau bedeutet der brasilianische Markt für Autonomous Systems? Daneben verfolgte ich natürlich auch die Akquise von potenziellen Kunden. Gleichzeitig ist Agrikultur 4.0 ein Thema, das auch viele andere Bereiche betrifft. An der Veranstaltung teilzunehmen, hatte in diesem Sinne nicht nur Vorteile für die Weiterentwicklung von Agrikultur 4.0, sondern auch für damit verbundene Forschungsfelder wie Industrie 4.0, Big Data oder KI.
Ein letztes Abschlusswort?
Agrikultur 4.0 und Smart Farming sind sehr große Trends mit Herausforderungen, die nicht innerhalb der nächsten zehn Jahre gelöst werden können… aber wir dürfen nicht aufhören, daran zu arbeiten!
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