Jedes Produkt hat eine Crowd. Doch damit ist weder die Schlange an der Supermarktkasse noch das Gedränge an einem Messestand gemeint. Die Crowd bezeichnet eine große Menge an Produktnutzern, die online beispielsweise über Bewertungsportale miteinander agieren. Sich dieses enorme Datenpotenzial zunutze zu machen und sich durch geschickte, automatisierte Analysen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, darum geht es beim Crowd-based Requirements Engineering. Mehr dazu im Interview mit Dr. Marcus Trapp, Abteilungsleiter User Experience und Requirements Engineering, und Eduard C. Groen, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer IESE Kaiserslautern.
Was versteht man unter einer Crowd? Gibt es eine kritische Masse, ab wann man von einer Crowd spricht?
Eduard C. Groen: Im Crowd-based Requirements Engineering oder kurz CrowdRE definieren wir eine Crowd als eine sehr große, heterogene und physikalisch verteilte Menge an Stakeholdern. Sie sind alle aktuelle oder potenzielle Nutzer eines bestimmten Produkts, in unserem Fall einer Software, und tauschen sich dazu online miteinander aus. Sogar Anwender von ähnlichen Produkten bei einem Wettbewerber zählen dazu. Man kann den Begriff nicht an einer konkreten Zahl festmachen, aber um die 1.000 Personen wäre für mich die untere Grenze. Allerdings können bei einer »Private Crowd«, was beispielsweise die Mitarbeiter eines Unternehmens sein könnten, auch weniger Personen ausreichend sein. Denn hier deckt man schneller eine repräsentative Stichprobe der Crowd ab. Wichtig ist, dass die Individuen einer Crowd, egal ob sie privat oder öffentlich ist, aktiv miteinander agieren.
Was ist die Zielsetzung von Crowd-based Requirements Engineering und wie komme ich an die Daten?
Eduard C. Groen: CrowdRE eignet sich besonders für Produkte, die bereits im Einsatz sind. Wenn man das enorme Potenzial der Crowd anzapft, verbessert man so das Produkt, was sowohl die Behebung von Fehlern als auch das Anbieten von neuen, innovativen Funktionen beinhalten kann. Durch die Verwendung eines Produkts macht die Crowd Erfahrungen mit dessen Verwendung und berichtet darüber durch Nutzerfeedback. Das Nutzerfeedback wird häufig in Reviewportalen und Feedbackkanälen wie Social Media geteilt. Dies sind also gute Quellen für Produktentwickler, um herauszufinden, was der Crowd gefällt oder auch nicht gefällt bzw. was vielleicht noch fehlt. Hierzu werden zumeist »Text-Mining«-Techniken verwendet. Bei Software können die Produktentwickler darüber hinaus mit »Usage-Mining«-Techniken analysieren, wie die Crowd das Produkt verwendet.
Kann man denn sagen, dass automatisierte Analysetechniken auf dem Vormarsch sind?
Dr. Marcus Trapp: Eigentlich gibt es »Text Mining« und »Usage Mining« schon länger; erste Schritte wurden bereits in den 1970ern unternommen. Heute bewegen wir uns allerdings dank maschinellem Lernen und KI-Technologien immer mehr in Richtung vollautomatisierter Auswertung. Außerdem ist bei der Auswertung des Feedbacks von großen Crowds der Einsatz von »Big-Data«-Ansätzen in einer Art, die wir vor Jahren noch nicht zur Verfügung hatten, unvermeidlich. Wir als Fraunhofer IESE nutzen diese Zukunftstechnologien und -werkzeuge und verfügen über umfassende Kompetenzen in klassischen RE-Methoden, »Data Analytics«, Kreativitätstechniken sowie maschinellem Lernen und KI – beste Voraussetzungen für CrowdRE.
Können Sie noch einmal genauer erläutern, warum hier Big-Data-Technologien notwendig sind?
Dr. Marcus Trapp: Big Data bietet für die Analyse und den Vergleich von Nutzerfeedback echte Vorteile. Zum einen produziert eine Crowd unterschiedlichste Daten. Nutzerreviews haben eine andere Struktur und Sprache als Bug Reports, und Logfile-Daten von Apps sind anders als die von eingebetteten Systemen. Zum anderen müssen Daten schnell verarbeitet werden, um Probleme, Trends und Innovationen frühzeitig zu identifizieren. Big Data ist somit für CrowdRE unerlässlich.
Was ist eigentlich der Unterschied zum klassischen Requirements Engineering?
Dr. Marcus Trapp: Bewährte Techniken im Requirements Engineering sind Interviews, Fragebögen und Workshops. Diese Ansätze eignen sich allerdings nur für wenige Stakeholder, da sie zu zeit- und kostenintensiv sind. Will man alle Stakeholder auf jedem Kontinent durch eine repräsentative Stichprobe verstehen, stößt man mit traditionellen Methoden schnell an seine Grenzen. Wir sehen CrowdRE als Ergänzung zu den bewährten Techniken aus dem Requirements Engineering. Hier geht es darum, die sowieso schon online vorhandenen Daten bzw. Feedbacks zu einem Produkt, die aus Bewertungssites, Bug Trackers oder Social Media stammen können, für seine Zwecke automatisiert zu analysieren. Durch den Einsatz dedizierter Werkzeuge und Techniken erhält man Einblicke von Tausenden Anwendern eines Produkts − und das mit minimalem Aufwand. Es wäre eine Verschwendung, dieses Potenzial nicht zu nutzen.
Was wäre ein typisches Anwendungsbeispiel?
Eduard C. Groen: Apps eignen sich beispielsweise hervorragend zur Aufdeckung von Verbesserungspotenzialen durch CrowdRE. Die vorhandenen Berichte liefern ein enormes Datenpotenzial, woraus man mithilfe von automatisierten Analyseverfahren Einsichten über Bugs, Beschwerden, Anfragen nach Features, Lob sowie funktionale Anforderungen und Qualitätsanforderungen erhalten kann. Außerdem kann man durch »Usage Mining« in Erfahrung bringen, wie Nutzer mit der App umgehen und welche Probleme sie womöglich damit haben. Will man eine völlig neue App entwickeln, kann es sich lohnen, auf Basis von Nutzerreviews der Wettbewerbsprodukte herauszufinden, was deren Nutzer vermissen. Und genau dieses Wissen kann man bei der eigenen Produktentwicklung einfließen lassen und so Alleinstellungsmerkmale schaffen.
Fraunhofer IESE prägt CrowdRE maßgeblich
Der Name »Crowd-based Requirements Engineering« wurde vom Fraunhofer IESE eingeführt und zum ersten Mal im Paper »Towards Crowd-based Requirements Engineering« auf der REFSQ 2015 verwendet. Inzwischen hat sich der Begriff allgemein durchgesetzt und wird so auch von anderen Wissenschaftlern verwendet. Im Rahmen der jährlichen IEEE International Requirements Engineering Conference ist das Fraunhofer IESE von Beginn an Mitveranstalter des »International Workshop on CrowdRE«.
Wie läuft ein CrowdRE-Projekt ab?
Eduard C. Groen: Einzigartig in diesem Bereich ist die persönliche Betreuung und Beratung, die das Fraunhofer IESE seinen Kunden bietet. Ob groß oder klein, für jedes Projekt wird die genaue Umsetzung von CrowdRE maßgeschneidert, damit die Fragestellung optimal von den Analysen beantwortet wird. In einem Workshop erarbeiten wir gemeinsam mit dem Kunden die Bedürfnisse seines Unternehmens und identifizieren so die passenden Datenquellen, aus denen unsere Werkzeuge das relevante Nutzerfeedback automatisch sammeln können. Die Analyseergebnisse werden in Dashboards, als automatisch oder halbautomatisch erstellter Bericht oder sogar mithilfe von Expertenanalysen als tatsächliche Anforderungen dargestellt. Wir als Fraunhofer IESE bieten somit umfassende Kompetenzen für maßgeschneiderte Services auf Basis unserer Werkzeuge!
Das Interview führte Claudia Reis,
Pressereferentin Fraunhofer IESE.
Weiterführendes zum Thema Crowd-based Requirements Engineering
Review CrowdRE’19, Jeju Island, Südkorea
Am 23./24. September 2019 fand auf der südkoreanischen Insel Jeju der 3. CrowdRE-Workshop (kurz: CrowdRE’19) statt. Die Conference lädt Forscher und Praktiker zum Diskutieren und Inspirieren ein, die sich für das Thema CrowdRE interessieren.