In seiner Comicreihe »Näher als wir denken!« prophezeite der amerikanische Künstler Arthur Radebaugh bereits in den 1960er Jahren den Einsatz von Computern zur Entscheidungsunterstützung in der Medizin. In den 1970er Jahren gingen die ersten klinischen Entscheidungsunterstützungssysteme (engl.: »Clinical Decision Support Systems«; kurz: CDSS) an den Start. Warum sie sich zunächst nicht durchsetzten, gegenwärtig ihr Comeback feiern und dabei helfen können, Leib und Leben zu schützen, erklärt das Fraunhofer IESE in diesem Blogartikel.
Ob Flachbildschirme, Navigationsgeräte, Videotelefonie, Elektrofahrzeuge, das autonome Fahren oder tragbare Geräte samt intelligenter Sensoren – die visionäre Comicreihe »Näher als wir denken!« (»Closer than we think!«, 1958 – 1963) des amerikanischen Künstlers Arthur Radebaugh war ihrer Zeit weit voraus. Er prophezeite auch den Einsatz von Computern zur Entscheidungsunterstützung in der Medizin. Ob er wohl geahnt hat, vor welchen Herausforderungen die moderne Medizin steht?
Was sind klinische Entscheidungsunterstützungssysteme?
Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (engl.: »Clinical Decision Support Systems«; kurz: CDSS) sind Computersysteme, die, basierend auf vorgegebenen Regeln oder statistischen Mustern in historischen Patientendaten, patientenspezifische Empfehlungen (z.B. Warnungen, Behandlungsempfehlungen oder Verdachtsdiagnosen) an ihre Nutzer*innen ausgeben. Dabei handelt es sich in erster Linie um medizinisches Fachpersonal. Sie variieren in ihrer Komplexität und reichen von einfachen Frühwarnsystemen, die Abweichungen von einer vorab definierten Norm erkennen, bis hin zu komplexen Systemen, die Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnosefindung unterstützen. Ihr Ziel haben sie allerdings gemeinsam: Eine möglichst optimale Versorgung der Patient*innen.
Medizinische Entscheidungen werden immer komplexer
Hat sich das medizinische Fachwissen im Jahr 1950 noch etwa alle 50 Jahre verdoppelt, war das laut Prognosen im Jahr 2020 bereits alle 0,2 Jahre (etwa alle 73 Tage) der Fall [1]. Damit wächst es derzeit – je nachdem, welche Quelle man für das sogenannte »Mooresche Gesetz« zugrunde legt – ungefähr 5- bis 10-mal schneller als die Zahl der Transistoren auf einem Computerchip [2]. Und Computerchips haben sich bekanntlich rasant entwickelt. Gleichzeitig werden medizinische Entscheidungen komplexer und beruhen auf immer größeren Datenmengen. Dazu zählen genetische Informationen und Daten rund um die Funktionsweise bestimmter Proteine im menschlichen Körper [3].
Die Komplexität wächst uns über den Kopf
Allerdings werden wir weder dem verfügbaren Wissen gerecht noch sind wir der Komplexität einzelner Entscheidungen gewachsen. Denn wie viel Wissen und Erfahrung medizinisches Fachpersonal erwerben und anwenden kann, ist zwar abhängig von der Ausbildungsqualität, der Motivation und der Unterstützung innerhalb des Gesundheitssystems, wird aber letztendlich durch die individuelle Arbeitszeit begrenzt [4]. Noch dazu hat sich unser Auffassungsvermögen seit Tausenden von Jahren nicht wesentlich verändert. Vielmehr ist es durch ein Leben jenseits großer Datenmengen geprägt worden. So können wir durchschnittlich nur etwa sieben unabhängige Informationen bewusst in unsere Entscheidungen einfließen lassen [5]. Stößt unser Auffassungsvermögen erst einmal an seine Grenzen, verlassen wir uns schnell auf mentale Abkürzungen und grobe Faustregeln [6]. Beispielsweise suchen wir gezielt nach Informationen, die unsere initiale Einschätzung bestätigen oder mit denen wir bereits vertraut sind. Oft sind wir uns dessen nicht einmal bewusst [7, 8]. Auch Ärztinnen und Ärzte sind davor nicht gefeit. Mehr als 100 verschiedene kognitive Verzerrungen und Denkfehler können den medizinischen Entscheidungsfindungsprozess beeinträchtigen [8–12].
Es droht Gefahr für Leib und Leben
Auch deshalb handelt es sich – je nach Studie – heute bereits bei 10-15 % aller gestellten Diagnosen um Fehldiagnosen [13]. Schlimmstenfalls droht Gefahr für Leib und Leben. Ein solcher »Lapsus« ist jedoch nicht nur gefährlich, sondern auch extrem teuer. In Deutschland fallen etwa 6,7 % der Gesundheitsausgaben an, weil Ärztinnen und Ärzte die falschen Medikamente verschreiben (ca. 6 Mrd. Euro) oder Patient*innen ihre Medikamente nicht ordnungsgemäß einnehmen (ca. 13 Mrd. Euro) [14]. Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten sind die fünfthäufigste Todesursache: Mehr als 50 000 Menschen sterben jährlich an ihren Folgen [15]. Zusätzlich wurden im Jahr 2022 landesweit etwa 2700 Behandlungsfehler mit Folgeschäden nachgewiesen [16]. Die Dunkelziffer liegt laut Expert*innen aber weitaus höher. Zwar existieren Leitlinien für eine optimale medizinische Versorgung, jedoch werden sie in der Praxis nicht flächendeckend umgesetzt [17–19].
Unser Gesundheitssystem steht unter Druck
Darüber hinaus kämpft unser Gesundheitssystem mit vielen Herausforderungen. Dazu zählen eine wachsende Ökonomisierung, der damit einhergehende Kosten- und Zeitdruck, der fortschreitende demografische Wandel und ein flächendeckender Personalmangel. Der demografische Wandel schlägt hier gleich doppelt zu Buche. In einer alternden Gesellschaft treffen immer mehr ältere Menschen, die medizinisch versorgt werden müssen, auf immer weniger jüngere Menschen, die eine solche Versorgung aufrechterhalten können. Gleichzeitig sehnen junge Menschen sich nach einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. So werden auch im Gesundheitswesen die Rufe nach einer 4-Tage-Woche lauter [20]. Es wird also immer weniger Menschen geben, die medizinische Entscheidungen treffen können oder – rund um die Uhr – treffen wollen [21, 22].
Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme können Abhilfe schaffen
Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) können helfen, eine hochwertige medizinische Versorgung zu gewährleisten, die dem vorhandenen medizinischen Fachwissen gerecht wird und gleichzeitig den obengenannten Herausforderungen gewachsen ist. Hierbei handelt es sich um Computersysteme, die in erster Linie medizinischem Fachpersonal dabei helfen sollen, Patient*innen möglichst optimal zu versorgen. Sie variieren in ihrer Komplexität und reichen von einem einfachen Frühwarnsystem, das Abweichungen bestimmter Vitalparameter von der Norm erkennt, bis hin zu komplexen Systemen, die Daten aus verschiedenen Quellen integrieren und – darauf basierend – Verdachtsdiagnosen stellen oder Behandlungsempfehlungen aussprechen [23]. Oft wird zwischen einer aktiven Entscheidungsunterstützung, etwa zur Findung einer Diagnose, und einer passiven Entscheidungsüberwachung, etwa der automatischen Erkennung von Allergien, Arzneimittelwechselwirkungen und unnötigen Mehrfachanordnungen, unterschieden [23].
Warum klinische Entscheidungsunterstützungssysteme sich zunächst nicht durchsetzten
Die ersten klinischen Entscheidungsunterstützungssysteme (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) wurden bereits in den 1970er Jahren entwickelt. INTERNIST-1 konnte anhand von eingegebenen Symptomen und Befunden etwa 570 Erkrankungen aus dem Fachbereich der Inneren Medizin erkennen [24]. Bei Infektionen half MYCIN, die jeweiligen Bakterienstämme zu identifizieren und empfahl geeignete Antibiotika, und das sogar dosisangepasst an das Körpergewicht der Patient*innen [25, 26]. Allerdings setzte sich keines dieser Entscheidungsunterstützungssysteme durch. Die Gründe sind vielfältig und reichen von der aufwendigen Unterhaltung der zugrundeliegenden Wissensdatenbanken bis hin zu ihrer umständlichen Bedienung. So hat der Aufbau und die Instandhaltung der INTERNIST-1 Wissensdatenbank, welche die für die Anwendnung der Entscheidungsregeln wichtigen Krankheitsprofile enthielt, rückwirkend etwa 50 Personenjahre (Stand 2010) in Anspruch genommen [26]. Noch dazu dauerte die Konsultation pro Fall etwa 30 bis 90 Minuten, da alle Informationen einzeln und manuell in das Entscheidungsunterstützungssystem eingegeben werden mussten [27]. Solche Entscheidungsunterstützungssysteme integrierten sich also nur unzureichend in bestehende Arbeitsabläufe und erforderten einen Arbeitsaufwand, der in keinem Verhältnis zu ihrem Nutzen stand.
Warum klinische Entscheidungsunterstützungssysteme gegenwärtig ihr Comeback feiern
Durch die fortschreitende Digitalisierung des Gesundheitswesens und den Vormarsch Künstlicher Intelligenz (KI) feiern klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) gegenwärtig ihr Comeback. Das liegt in erster Linie an einer höheren Datenverfügbarkeit, der enormen Rechenleistung moderner Computer, der Möglichkeit, Entscheidungsregeln automatisch extrahieren zu können, und an einem gestiegenen Bewusstsein für die Nutzerfreundlichkeit von digitalen Lösungen in der Gesundheitsversorgung.
Höhere Datenverfügbarkeit
Mit der fortschreitenden Digitalisierung und der Etablierung interoperabler Schnittstellen steigt die Datenverfügbarkeit. Daher fließen Daten, wo sie vormals mühselig per Hand eingegeben werden mussten. Dieser Trend verstärkt sich durch die Einführung entsprechender Datenökosysteme, wie etwa der elektronischen Patientenakte (kurz: ePA).
Enorme Rechenleistung moderner Computer
Gepaart mit der enormen Rechenleistung moderner Computer bilden verfügbare Daten die Grundlage für die Anwendung modernster statistischer Verfahren. Verfahren wie etwa das Maschinelle Lernen (engl.: »Machine Learning«; kurz: ML) können auch solche Muster erkennen, die dem Menschen zunächst verborgen bleiben. Das können sowohl Zusammenhänge zwischen bestimmten Symptomen, Befunden und Diagnosen sein, als auch subtile Muster in Daten, die im Rahmen bildgebender Diagnostik anfallen. Diese Erkenntnisse können dann – ganz ohne die manuelle Vorgabe einer Entscheidungsgrundlage – auf bisher ungesehene Fälle übertragen werden.
Automatische Extraktion von Entscheidungsregeln
Soll die Entscheidungsfindung dennoch auf expliziten Regeln statt auf statistischen Mustern beruhen, können diese mittlerweile auch automatisch aus aktuellen medizinischen Leitlinien extrahiert werden. Es ist daher nicht mehr zwingend notwendig, die Wissensdatenbanken, aus denen ein klinisches Entscheidungsunterstützungssystem (engl.: »Clinical Decision Support System«) seine Empfehlungen ableitet, manuell anzulegen und zu aktualisieren. Moderne KI-Verfahren wie das sogenannte »Natural Language Processing« (kurz: NLP) machen dies möglich [28].
Gestiegenes Bewusstsein für die Nutzerfreundlichkeit
Durch den Einsatz von Wearables und Apps (z.B. DiGA) ist zudem das Bewusstsein für die Nutzerfreundlichkeit digitaler Lösungen in der Gesundheitsversorgung noch einmal deutlich gestiegen. Eine Entwicklung, die auch klinischen Entscheidungsunterstützungssystemen (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) zugute kommt.
Wissenswertes zu klinischen Entscheidungsunterstützungssytemen
Haupttypen und Datenquellen
Man unterscheidet zwischen wissensbasierten und nicht-wissensbasierten (bzw. datengetriebenen) klinischen Entscheidungsunterstützungssystemen (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) [23]. Während bei wissensbasierten Entscheidungsunterstützungssystemen die Entscheidungsregeln, die den Schlussfolgerungen des Systems zugrunde liegen, explizit durch die Entwickler*innen in einer Wissensdatenbank vorgegeben werden, werden sie bei datengetriebenen Entscheidungsunterstützungssystemen automatisch aus historischen Patientendaten erschlossen und auf neue Fälle angewendet [29]. Das ist besonders dann von Vorteil, wenn es sich um große Mengen an multimodalen Daten handelt. Denn die Datenquellen können vielfältig sein und reichen von Arztbriefen über klinisch dokumentierte Symptome bis hin zu Laborbefunden und aufwendigen bildgebenden Verfahren, wie etwa der Magnetresonanztomografie (MRT) oder Röntgenuntersuchungen.
Zielsetzung und Anwendungsgebiete
Die Entscheidungsunterstützungssysteme unterscheiden sich dabei – unabhängig von ihrer Datengrundlage – in ihrer Zielsetzung und in ihrem Anwendungsgebiet [23]. So werden sie einerseits für administrative Aufgaben und für die Prozessautomatisierung eingesetzt, etwa für die klinische Dokumentation und die Kodierung im Kontext der Abrechnung. Andererseits können sie durch die Ausgabe von Erinnerungen und Warnungen auch im Bereich des klinischen Managements eingesetzt werden, etwa um Prozesse zu standardisieren und die Einhaltung klinischer Leitlinien zu gewährleisten. Wohl am bekanntesten sind jedoch Entscheidungsunterstützungssysteme, die entwickelt wurden, um Ärztinnen und Ärzte bei der Diagnosefindung zu unterstützen. Neuartige klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) richten sich – ganz im Sinne einer patientenzentrierten Versorgung – sogar direkt an die Patient*innen. Über Wearables und tragbare Sensoren können diese sowohl dem medizinischen Fachpersonal Daten zur Verfügung stellen als auch maßgeschneiderte Informationen und Empfehlungen erhalten, etwa basierend auf ihrem individuellen Krankheitsverlauf [23]. Deshalb können klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) mittlerweile nicht nur über den Desktop, sondern auch über Tablets, Smartphones und andere Geräte, wie etwa Wearables, konsultiert werden.
Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme tragen zu einer evidenzbasierten, demokratischen und patientenzentrierten Gesundheitsversorgung bei
Unterstützung des Gesundheitswesens bei der Erfüllung seiner wesentlichen Aufgaben
Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) helfen, Fehldiagnosen zu reduzieren, Behandlungs- und Medikationsfehlern vorzubeugen, die Einhaltung klinischer Routinen und Standards zu überwachen, Prozesse zu automatisieren und unnötige Behandlungsschritte zu vermeiden [23, 30–36]. In der Konsequenz unterstützen sie das Gesundheitswesen bei der Erfüllung seiner wesentlichen Aufgaben: der Gewährleistung der Versorgungssicherheit, etwa durch die Optimierung von Prozessen; der Gewährleistung der Bezahlbarkeit, etwa durch die Reduzierung von Kosten und Arbeitsaufwand; und schließlich der Gewährleistung der Behandlungsqualität und Patientensicherheit, etwa durch die Vermeidung von Fehldiagnosen und potenziellen Folgeschäden.
Stärkung der evidenzbasierten Medizin
Einerseits können Klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) dafür sorgen, dass geltende medizinische Leitlinien gewissenhafter umgesetzt werden; andererseits können sie die Adoption aktualisierter medizinischer Leitlnien, die regelmäßig von Expertengremien anhand aktueller Forschungsergebnisse erstellt werden, beschleunigen. Wissenschaftliche Erkenntnisse kommen der Gesundheitsversorgung so verlässlicher und schneller zugute.
Demokratisierung durch Standardisierung
Ihr Einsatz stärkt allerdings nicht nur die evidenzbasierte Medizin, sondern treibt auch die Demokratisierung der Gesundheitsversorgung voran. Denn das zugrunde liegende medizinische Fachwissen kommt so nicht nur direkt der Versorgung, sondern auch allen gleichermaßen zugute. Voraussetzung ist, dass der Zugang zu solchen klinischen Entscheidungsunterstützungssystemen (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) – ganz im Sinne der gesellschaftlichen Teilhabe – flächendeckend ermöglicht wird. So können nicht nur Qualitätsunterschiede innerhalb eines Landes, etwa zwischen Maximalversorgern in städtischen Ballungsgebieten und Gesundheitsversorgern in ländlichen Regionen, sondern auch Qualitätsunterschiede über Ländergrenzen hinweg, etwa zwischen Industrienationen und Drittweltländern, reduziert werden. Das Ergebnis ist eine hochwertige, evidenzbasierte und standardisierte medizinische Versorgung, die regions- und landesübergreifend angeboten werden kann.
Mehr Zeit für die Patient*innen
Gleichzeitig kann durch die Automatisierung und Optimierung von Prozessen Zeit eingespart werden, die das medizinische Fachpersonal – getreu seinem Anspruch – wieder ganz der Gesundheit und dem Wohlbefinden der Patienten*innen widmen kann.
Praktischer Nutzen
In der Praxis kann der Einsatz solcher Entscheidungsunterstützungssysteme z.B. den Unterschied machen…
- …zwischen Patient*innen, denen – trotz einer Penicillinallergie – fälschlicherweise Penicillin verabreicht wird, und solchen, bei denen das System automatisch und entschieden einschreitet, um die Patient*innen vor schwerwiegenden Folgen zu bewahren;
- …zwischen Patient*innen, die einen langen Leidensweg und eine Odyssee an Arztbesuchen durchlaufen, bis bei ihnen eine Seltene Erkrankung diagnostiziert wird, und solchen, bei denen das System schon frühzeitig im Rahmen eines Hausarztbesuchs den entscheidenden Hinweis gibt;
- …zwischen dem medizinischen Fachpersonal, das Daten müheselig manuell dokumentieren und kodieren muss, und dem medizinischen Fachpersonal, das sich in derselben Zeit ganz der Versorgung der Patient*innen widmen kann.
So wird die Neuauflage klinischer Entscheidungsunterstützungssysteme eine Erfolgsgeschichte
Die Vergangenheit zeigt, dass klinische Entscheidungsunterstützungssysteme (engl.: »Clinical Decision Support Systems«) keine Selbstläufer sind. Damit ihre Neuauflage eine Erfolgsgeschichte wird, müssen einige Voraussetzungen erfüllt werden.
Verlässliche Systeme: Transparenz, Nachvollziehbarkeit und ein gutes Unsicherheitsmanagement
Da bei medizinischen Entscheidungen im Ernstfall Gefahr für Leib und Leben droht, gilt es, die Entscheidungsunterstützungssysteme so verlässlich und vertrauenswürdig wie möglich zu gestalten. Verlässlichkeit heißt in diesem Kontext, möglichst transparent und nachvollziehbar zu machen, wie diese Entscheidungsunterstützungssysteme zu ihren Empfehlungen kommen und wie robust diese Empfehlungen unter wechselnden Ausgangsbedingungen sind, wie etwa bei unterschiedlicher Datenqualität. Dazu gehört auch, deutlich zu machen, mit wie viel Unsicherheit die Schlussfolgerungen der Systeme behaftet sind. Denn ein Blick hinter die Kulissen hilft, blindem Vertrauen vorzubeugen, Nutzer*innen für die Stärken und Schwächen der Entscheidungsunterstützungssysteme zu sensibilisieren und langfristig das Vertrauen in ihre Empfehlungen zu stärken [23, 37]. Die Folge: eine höhere Akzeptanz seitens aller Akteure und damit auch eine höhere Bereitschaft, die Systeme in der Praxis tatsächlich einzusetzen. Nachvollziehbare Empfehlungen haben einen weiteren Vorteil: Während intransparente Empfehlungen womöglich zu blindem Vertrauen und einem Verlust von Nutzerfertigkeiten führen, können Nutzer*innen aus nachvollziehbaren Warnungen und Empfehlungen lernen [23].
Souveräner Umgang: Empfehlungen kritisch beurteilen
Ein fachgerechter Einsatz erfordert auch eine kritische Beurteilung der Empfehlungen. Falls möglich, empfiehlt es sich, leistungsfähige statistische Verfahren mit klassischen regelbasierten Ansätzen zu kombinieren, um so die jeweiligen Empfehlungen gegenseitig auf ihre Konsistenz und Plausibilität hin überprüfen zu können [38]. Dafür müssen allerdings alle Akteure im Hinblick auf ihre Kompetenzen rund um den Umgang mit Computern, der Digitalisierung, (Gesundheits-)Daten und Künstlicher Intelligenz (KI) geschult werden. Andernfalls droht eine fehlende Technologieaffinität zum Flaschenhals für die flächendeckende Anwendung der Systeme zu werden [23, 39].
Gesellschaftliche Teilhabe: Flächendeckende Bereitstellung und digitale Inklusion
Diese Fähigkeiten fördern nicht nur den souveränen Umgang mit Entscheidungsunterstützungssystemen, sondern auch die gesellschaftliche Teilhabe an einer besseren Gesundheitsversorgung. Neben der flächendeckenden Bereitstellung der Entscheidungsunterstützungsysteme ist es wichtig, dass die Patient*innen über die notwendigen Kompetenzen verfügen, um von ihnen profitieren zu können. Nicht umsonst gilt die digitale Inklusion als ein wesentlicher sozialer Einflussfaktor auf die individuelle Gesundheit [40]. Darunter versteht man sowohl das Wissen als auch die Fähigkeiten, die es dem Individuum erlauben, digitale Angebote wahrzunehmen, die sich – direkt oder indirekt – auf die eigene Gesundheit auswirken.
Repräsentativität: Systematische Fehler und Verzerrungen vermeiden
Gesellschaftliche Teilhabe heißt auch, dass keine gesesllschaftliche Gruppe durch die Entscheidungsunterstützungssysteme systematisch benachteiligt werden darf, etwa durch ungenaue oder verzerrte Empfehlungen. Deshalb muss insbesondere bei datengetriebenen, KI-basierten Entscheidungsunterstützungssystemen darauf geachtet werden, dass die Datengrundlage repräsentativ ist und die Gruppe der Betroffenen in ihrer Vielfalt und Heterogenität so getreu wie möglich abbgebildet wird [4]. Gleiches trifft auch auf den Entwicklungsprozess zu. Nur solche Entwicklerteams, die verschiedene Entwicklungsansätze, etwa unter Einbezug verschiedener Disziplinen und Nationalitäten, abbilden, vermeiden Fehler und Verzerrungen zum Nachteil bestimmter Gruppen [4]. Es sind also nur solche Entscheidungsunterstützungssysteme inklusiv, die sowohl hinsichtlich statistischer, sozialer und technischer Aspekte repräsentativ sind.
Nutzerfreundlichkeit: Nutzer*innen frühzeitig einbinden
Außerdem gilt es, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Nutzer*innen müssen deshab frühzeitig in die Konzeption der Entscheidungsunterstützungssysteme eingebunden werden, damit sie möglichst reibungslos in deren Arbeitsabläufe integriert werden können.
Datenverfügbarkeit: Anbindung an geeignete Datenökosysteme ermöglichen
Zugleich müssen dort mehr Daten fließen, wo sie heute noch mühselig per Hand eingegeben werden. Deshalb müssen entsprechende Schnittstellen zur Anbindung an die dafür geeigneten Datenökosysteme, wie etwa die elektronische Patientenakte (kurz: ePA), geschaffen und flächendeckende Investitionen in die Digitalisierung und Interoperabilität der Gesundheitsinfrastruktur getätigt werden.
Ökonomischer Nutzen: Kosten frühzeitig einkalkulieren
Abschließend müssen ökonomische Aspekte, wie etwa Kosten, die durch die Schulung des Personals sowie die Wartung und Instandhaltung der Entscheidungsunterstützungssysteme entstehen, frühzeitig berücksichtigt werden, damit sich ihr Einsatz auch langfristig rechnet [23].
Einsatz eines Entscheidungsunterstützungssystems im Projekt SATURN
Seltenen Erkankungen auf der Spur
Zusammen mit weiteren Projektpartnern (Universitätsklinikum Frankfurt, Goethe-Universität Frankfurt, Technische Universität Dresden) entwickelt das Fraunhofer IESE im Projekt SATURN ein klinisches Entscheidungsunterstützungssystem (engl.: »Clinical Decision Support System«). Ziel ist es, Hausärztinnen und Hausärzte dabei zu unterstützen, Patient*innen, bei denen zunächst eine unklare Diagnose oder gegebenenfalls eine Seltene Erkrankung (im Engl. Orphan oder Rare Disease) vorliegt, frühzeitig an die richtigen Fachärztinnen und Fachärzte weiterzuleiten. Das Projekt deckt dabei verschiedene Krankheitsbilder aus dem Fachbereich der Inneren Medizin (Endokrinologie, Pulmologie und Gastroenterologie) ab.
Hybrider Ansatz: Kombination von wissens- und datenbasierten Komponenten
Auf der technischen Ebene verfolgt das Projekt ganz bewusst einen hybriden Ansatz, in dem es wissens- und datenbasierte Komponenten miteinander vereint. Einerseits werden mithilfe statistischer Verfahren Muster in historischen Patientendaten ermittelt, um diese auf neue Fälle übertragen zu können; andererseits kommen wissensbasierte Ansätze zum Einsatz, bei denen die Entscheidungsregeln vorab sowohl über Interviews mit Ärztinnen und Ärzten als auch mittels automatischer Extraktion aus medizinischen Leitlinien gewonnen werden. Die Hausärztinnen und Hausärzte haben so später die Möglichkeit, die Empfehlungen der jeweiligen Ansätze gegenseitig auf ihre Konsistenz und Plausibilität hin zu überprüfen. Denn klassische regelbasierte Ansätze sind nicht nur nachvollziehbarer, sondern benötigen auch keine historischen Patientendaten. Das ist im Kontext Seltener Erkrankungen von entscheidendem Vorteil, da Datenknappheit hier in der Natur der Sache liegt.
Frühzeitige Einbindung der Nutzer*innen
Hausärztinnen und Hausärzte wurden von Beginn an in das Projekt eingebunden. Mit ihrer Hilfe wurde ein Anforderungsprofil für die Benutzeroberfläche und die Interaktion mit dem Entscheidungsunterstützungssystem erarbeitet, um eine möglichst reibungslose Integration in bestehende Arbeitsabläufe zu gewährleisten.
Anbindung an verfügbare Datenökosysteme
Perspektivisch soll die Übermittlung der Patientendaten zudem so weit wie möglich vereinfacht werden, etwa über eine direkte Anbindung an Praxisverwaltungssysteme (PVS) und die elektronische Patientenakte (ePA). Das eröffnet weitere Möglichkeiten, wie z.B. eine gezielte, datenschutzkonforme und deutschlandweite Verknüpfung und Nutzung von Daten aus den mehr als 30 existierenden Zentren für Seltene Erkrankungen, etwa über Verfahren des sogenannten föderierten Lernens (engl.: »Federated Learning«; kurz: FL).
Damit leistet das Fraunhofer IESE einen Beitrag zu einer evidenzbasierteren und besseren Gesundheitsversorgung. Arthur Radebaugh hätte das mit Sicherheit gefallen.
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