Wie funktioniert Digitales Diagnostik? Wir stellen es in unserem Projekt vor.

Neighborhood Diagnostics – Entwicklung eines Digitalen Ökosystems für digitale Diagnostik

Die medizinische Versorgung auf dem Land steht vor großen Herausforderungen. Praxen können kaum neue Patient*innen aufnehmen, und es fehlt auch an Nachfolger*innen. Die Wartezeiten für Facharzttermine sind lang und die Diagnosefindung dauert ebenfalls immer länger. In diesem Blogartikel stellen wir das Projekt »Neigborhood Diagnostics« vor, das die Gesundheitsversorgung mit Hilfe digtialer Diagnostik im ländlichen Raum verbessern soll. Erfahren Sie, wie das Fraunhofer IESE gemeinsam mit anderen Instituten an der Förderung der dezentralen Diagnostik arbeitet und ein digitales Gesundheitsökosystem schafft, um diese Probleme anzugehen.

»Der Landarzt stirbt aus. Auf dem Land droht Versorgungsnot.« Darüber berichtete n-tv bereits im Jahr 2017. Wie sieht es im Jahr 2023 aus? Hat sich die Situation mittlerweile verbessert? Die Antwort ist einfach: nein. Die Auswirkungen des demografischen Wandels sind in Deutschland allgegenwärtig. Während die Zahl der Pflegebedürftigen ansteigt, ist der Anteil der Bevölkerung im Erwerbsalter rückläufig.

Dadurch kommen medizinische Einrichtungen zunehmend an ihre Belastungsgrenzen. Viele Praxen können wegen fehlendem Personal weder neue Patient*innen aufnehmen, noch finden sie passende Nachfolger*innen. Laut der Kassenärztlichen Vereinigung Brandenburg (KVBB) sind ein Drittel der Hausärzt*innen in Brandenburg 60 Jahre alt oder älter. Bei den Fachärzt*innen sind es rund 29 Prozent. Auf Termine bei Fachärzt*innen müssen Patient*innen teils monatelang warten.

Darüber hinaus verlängert sich durch den Mangel an Ärzt*innen die Dauer bis zur Diagnosefindung. Außerdem müssen die Patient*innen größere Entfernungen in Kauf nehmen, um zu den verfügbaren Ärzt*innen zu gelangen. Diese Herausforderungen gehen wir im Rahmen des Projekts Neigborhood Diagnostics an. Das Projekt zielt auf eine gesamtgesellschaftliche und flächendeckende Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum ab, indem die dezentrale Diagnostik gefördert und ein digitales Gesundheitsökosystem geschaffen wird. Das Fraunhofer IESE führt dieses Projekt im Rahmen des Fraunhofer-Zentrums für Digitale Diagnostik ZDD gemeinsam mit dem Fraunhofer IFF, dem Fraunhofer IZI und dem Fraunhofer IZI-BB durch.

Was ist digitale Diagnostik?
Der Begriff bezeichnet die medizinische Diagnostik durch digitale Verfahren und Datenanalysen. Medizinische Parameter wie Bilder, Tests oder andere Informationen werden digital erfasst, analysiert und ausgewertet. Zu den digitalen Technologien zählen u.a. bildgebende Verfahren wie bspw. Röntgen, als auch automatisierte Labordiagnosen, der Einsatz von Sensoren und Wearables, die Telemedizin und die Anwendung von Künstlicher Intelligenz und Maschinellem Lernen zur Erkennung von Mustern in großen Datenmengen. Die Digitale Diagnostik trägt dazu bei, Krankheiten schneller und besser zu erkennen, sie zu überwachen und zu behandeln und bietet somit das Potenzial, die Qualität der Gesundheitsversorgung zu steigern.

Was haben wir mit Neighborhood Diagnostics vor?

Das Ziel von Neighborhood Diagnostics ist es, den Gesundheitszustand von Patient*innen im ländlichen Raum mithilfe verschiedener Datenquellen zu erfassen, diese Daten auszuwerten und so präventive und akute ärztliche Termine sowie Labordiagnosen zu ermöglichen. Dies geschieht durch die Verwendung von Smartphone-vernetzten Wearables, welche Gesundheitsdaten wie z.B. Herzfrequenz, Gehstabilität oder Sturzereignisse aufzeichnen, sowie roboterbetriebenen Gesundheitsstationen, die an öffentlichen Plätzen im ländlichen Raum aufgestellt und flexibel an regionale Bedürfnisse angepasst werden können. Die Gesundheitsstationen sind in der Lage, Labortests vor Ort durchzuführen und helfen somit, Engpässe in Laboren zu kompensieren und neue Kapazitäten im Gesundheitssystem zu schaffen. Sie sind vollautomatisiert und können ohne Personal betrieben werden. Durch die Vernetzung von Smart Wearables, Gesundheitsstationen und einer Datenplattform wird ein Digitales Ökosystem geschaffen, das darauf abzielt, Krankheiten frühzeitig zu erkennen, nicht notwendige Besuche bei Ärzt*innen zu reduzieren und die medizinische Versorgung in ländlichen Regionen insgesamt zu verbessern.

Im Laufe der Konzeptentwicklung sollen sowohl die Plattform als auch die App und die Gesundheitsstation im ländlichen Raum prototypisch getestet werden, um verschiedene Funktionen sowie die Wirtschaftlichkeit zu evaluieren. Zudem werden handelsübliche Wearables verwendet, die über Sensoren zur Erfassung von Gesundheitsdaten beitragen. Das konzipierte Ökosystem soll hierbei in einem iterativen Vorgehen entwickelt und optimiert werden. In Abbildung 1 ist das geplante Gesundheitsökosystem dargestellt.

Digitale Diagnostik: Übersicht über das Neighborhood Diagnostisch Ökosystem. Mit Patienten, Fachpersonal und Anbieter von Diagnostik
Abbildung 1: Darstellung des Gesundheitsökosystems

Die Vision des Digitalen Ökosystems für digitale Diagnostik

Das Gesamtkonzept umfasst die Entwicklung einer Smartphone-App für die Patient*innen sowie einer digitalen Plattform, die verschiedene, individuell genutzte Wearables und Home Monitoring Devices (wie z.B. Smarte Fieberthermometer) verbindet. Ebenfalls mit der digitalen Plattform vernetzt sind die roboterbetriebenen Gesundheitsstationen, die bedarfsorientierte Tests und Probenentnahmen durchführen können. Die erhobenen Gesundheitsdaten werden in der Smartphone-App der Patient*innen gesammelt und verständlich und übersichtlich dargestellt. Über diese App ist zudem eine Verwaltung der Daten durch die Patient*innen möglich, sodass ausschließlich ausgewählte Informationen nach einer entsprechenden Datenfreigabe von den behandelnden Ärzt*innen eingesehen werden können. Diese Datengrundlage soll zur Früherkennung, Diagnose und Behandlung von Erkrankungen beitragen. Die Kommunikation erfolgt über die digitale Plattform und die Smartphone-App, welche relevante Benachrichtigungen über Testergebnisse etc. an die Patient*innen schickt. Die Neighborhood-Diagnostics-Plattform ermöglicht dabei eine vereinfachte Kommunikation zwischen verschiedenen Systemen durch die Bereitstellung einheitlicher Schnittstellen. Daher muss nicht jedes System individuell angebunden werden, sondern kann sich einmal zentral über die Plattform an die bestehende Systemlandschaft anbinden, um einen ausgewählten Datenaustausch zu ermöglichen.

Hierbei verfolgen wir drei Ausbaustufen, wie in Abbildung 2 dargestellt . Während in der ersten Stufe Messergebnisse im Digitalen Ökosystem sicher ausgetauscht werden, ermöglicht die zweite Ausbaustufe die Erzeugung von Interpretationen und Diagnosen durch »Diagnose- und Interpretationsdienste« aus diesen Daten. Auch diese können im Digitalen Ökosystem sicher ausgetauscht werden. Basierend auf diesen Interpretationen und Diagnosen sollen in einer dritten Ausbaustufe durch weitere Dienste Handlungsempfehlungen für Therapien oder Hilfsmittel erarbeitet werden können.

 

Die drei Ausbaustufen der digitalen Diagnostik: 1: Digitales Datenabbild, 2: Diagnose des Datenabbilds, 3: Leistungen für Diagnose
Abbildung 2: Darstellung der Ausbaustufen des Gesundheitsökosystems für digitale Diagnostik

 

Die Gesundheitsstationen sollen in ländlichen Regionen an öffentlichen Plätzen in einzelnen Ortschaften aufgestellt werden und rund um die Uhr geöffnet sein. Der modulare Aufbau ermöglicht einerseits einen schnellen Auf- und Abbau sowie einen leichten Transport, andererseits kann das Set-up an individuelle regionale Bedürfnisse wie bspw. ein aktuelles Infektionsgeschehen angepasst werden. Die Gesundheitsstationen sollen die Durchführung von diagnostischen Tests und die frühzeitige Vereinbarung von Terminen bei Ärzt*innen vereinfachen. Sie arbeiten autonom und kommunizieren mit den Nutzer*innen barrierefrei über Spracherkennung, Gesten und ein Display.

Teilbereiche des Forschungsprojekts

Wie in Abbildung 3 dargestellt, ist das offene Digitale Ökosystem modular konzipiert: die digitale Plattform für den Austausch und Transfer der Gesundheitsdaten, die roboterbetriebene Gesundheitsstation und die Integration der Wearables.

Wie funktioniert digitale Diagnostik? Im angedachten Versuchsaufbau bestehend aus Gesundheitsstation sowie klugen Medzingeräten und Wearbles, mit denen über eine App interagiert wird werden Daten an mittels ND Plattform Ärzt:innen zur Verfügung gestellt um Handlungsempfehlungen zu erarbeiten.
Abbildung 3: Wie funktioniert digitale Diagnostik? Versuchsaufbau im Projekt

Plattform

Substanzielles Element des zu erstellenden offenen Digitalen Ökosystems ist die digitale Plattform. Die Plattform dient als zentrales Element zur Integration verschiedener Datenquellen. Sie ermöglicht den Austausch von Gesundheitsdaten zwischen den beteiligten Akteur*innen. Optional angedacht ist außerdem die Anbindung von Softwaresystemen zur Vermittlung oder Buchung von ärztlichen Terminen an die Plattform. Zudem bietet sie grundlegende Dienste wie beispielsweise die Verwaltung von Nutzerkonten an.

Durch die Nutzung der Architekturmethoden des Fraunhofer IESE wird eine gute Skalierbarkeit der Plattform sichergestellt.

Was ist die Gesundheitsstation?

Die roboterbetriebene Gesundheitsstation ist eine abgeschlossene Einheit, in der der Roboter und die diagnostischen Analyseinstrumente und ggf. die Laborgeräte angeordnet sind. Die Analyseinstrumente und Laborgeräte können durch die Modularität einfach ausgetauscht werden, um standort- oder zeitbedingt oder bei neu auftretenden diagnostischen Anforderungen mit entsprechenden Analyseverfahren ausgestattet zu werden. Die physische Interaktion zwischen Roboter und Patient*innen erfolgt über eine Übergabestation bzw. Schleuse. Die Übergabestation verfügt über automatisierte Sterilisierungsverfahren, um eine kontaminationsfreie Funktionsweise der Gesundheitsstation zu gewährleisten. Die Station hat einen Vorrat an Probenannahmesets sowie für die jeweiligen Diagnoseverfahren notwendigen Laborverbrauchsmaterialien, um den Bedarf von Patient*innen an Gesundheitstests abzudecken.

Kernkomponente der Station ist der Roboter. Aus Gründen der feinfühligen Handhabung der Objekte in der Station kommt ein Leichtbauroboter zum Einsatz. Der Roboter übernimmt die Handhabungsaufgaben von notwendigen Labormitteln, die Durchführung von prä- und postanalytischen (Zwischen-)Schritten des ausgewählten Diagnoseverfahrens, das Anreichen des Probenentnahmesets sowie dessen Entsorgung. Im Vordergrund der Station steht eine patientennahe Diagnostik. Mithilfe der Gesundheitsstation sollen zahlreiche Wege und Wartezeiten der Patient*innen vermieden werden. Neben Tests, die der Roboter direkt auswerten kann, soll die Station auch als ein Proben-Hub fungieren. Test- oder Probenkits können dabei ausgegeben werden, und die gesammelten Proben können anschließend zur Kühlung an einen Roboter übergeben werden. Die Auswertung solcher Proben erfolgt später klassisch in einem Labor.

Wearables und kluge Medizingeräte

Das dritte zentrale Element des offenen Ökosystems ist die Einbindung von Gesundheitsdaten, die über Wearables gemessen werden. Wearables ermöglichen es, u.a. Vital- und Fitnessdaten aufzunehmen und können mithilfe von Sensoren eine kontinuierliche und ortsunabhängige Überwachung des Gesundheitszustandes gewährleisten. Zu den bekanntesten Wearables gehören Smartwatches und Fitnesstracker. Beispielsweise können handelsübliche Wearables den Schlaf überwachen, die Temperatur bestimmen, die Sauerstoffsättigung berechnen, die Atemfrequenz ermitteln sowie kardiovaskuläre Parameter wie den Ruhepuls, die Herzfrequenz oder EKG-Daten messen. Weiterhin nutzen intelligente Medizingeräte für den Heimgebrauch diese Schnittstellen. So erweitert sich der Spektrum um Ergebnisse von Blutdruckmessgeräten, Fieberthermometern, Blutzuckermonitoring und anderen Gerätschaften. Zudem können sie Daten zur Mobilität der Nutzer*innen wie Aktivitätsdauer, Schrittzahl,  Schrittlänge oder Stürze detektieren. Ziel von Neighborhood Diagnostics ist es, diese Daten mit der eigens entwickelten Analyse-App zu koppeln und die Daten so im Rahmen der Diagnostik zu verwenden. Eine Möglichkeit wäre es, bei Auffälligkeiten oder starken Abweichungen innerhalb des zeitlichen Verlaufs der Gesundheitsdaten eine Benachrichtigung zu senden, mit der Empfehlung, ärztliches Personal aufzusuchen oder einen Labordiagnostiktermin zu vereinbaren. Dies kann den Nutzer*innen helfen, Klarheit über den eigenen Gesundheitszustand zu erlangen und mehr über ihren Körper zu lernen.

Fazit und Ausblick für die digitale Diagnostik

Neighborhood Diagnostics zeichnet sich in erster Linie durch den modularen Aufbau und die dezentrale digitale Diagnostik aus. Die einzelnen Module ergänzen sich im Zusammenspiel und Beteiligte werden besser miteinander vernetzt, Prozesse werden effizienter und dadurch wird die Versorgungssituation verbessert. Um gemeinsam mit unseren Projektpartnern die Anforderungen an das Digitale Ökosystem und das Zusammenwirken der Beteiligten zu verstehen und die gewonnenen Erkenntnisse danach in ein Konzept zu transferieren, haben wir mithilfe der ‘Tangible Ecosystem Design’-Methode einen Workshop durchgeführt. Mehr Informationen zur ‘Tangible Ecosystem Design’-Methode können hier gefunden werden. Im Workshop wurden detaillierte Prozessabläufe entwickelt sowie Service Blueprints modelliert, aus denen hervorgeht, wie die Ökosystem-Beteiligten miteinander interagieren. Über den Verlauf des Workshops sowie die Ergebnisse berichten wir in unserem nächsten Blog-Beitrag.