Derzeit viel diskutiert in Wissenschaft und Wirtschaft: das Thema Industrie 4.0. Doch bei der vierten industriellen Revolution bleiben oft viele Fragen ungeklärt. Ich gehe im Interview mit Prof. Peter Liggesmeyer, Institutsleiter des Fraunhofer IESE, unter anderem der Frage nach, wie viel Industrie 4.0 Unternehmen tatsächlich brauchen.
Wie definiert man überhaupt Industrie 4.0? Hierzu scheint es in der Praxis recht unterschiedliche Auffassungen zu geben.
Die vierte industrielle Revolution ist geprägt durch die Ablösung von Massenprodukten durch massenindividualisierte Produkte. Unternehmen werden in die Lage versetzt, individuell auf die Bedürfnisse des Kunden zugeschnittene Produkte in kleinen Losgrößen kostengünstig herzustellen. Das heißt mit ähnlicher Kostenstruktur wie in der Massenfertigung. Wer in Zukunft individuell fertigen will, braucht Produktionsanlagen mit bestimmten Fähigkeiten, die heute nur in Teilen vorhanden sind. Zur Realisierung dieser Fähigkeiten dienen Aspekte wie Digitalisierung, Vernetzung, Autonomie und Offenheit der Systeme.
Müssen in Zukunft alle Unternehmen auf Industrie 4.0 umstellen?
Das hängt davon ab, welches Ziel das Unternehmen erreichen möchte. Wird die massenindividualisierte Fertigung gar nicht angestrebt, kann es schon ausreichen, auf Industrie 3.X umzustellen und Themen wie die präventive Wartung, die Erreichung einer höheren Verfügbarkeit oder die autonome Kompensation von Maschinenausfällen zu realisieren. Den Schritt zur massenindividuellen Fertigung könnte sich das Unternehmen aus Gesichtspunkten der Kosten-Nutzen-Relation und unter Betrachtung aller Risiken in dem Fall sparen.
Was raten Sie Unternehmen? Woher sollen sie nun wissen, wie viel Industrie 4.0 sie brauchen?
Ich finde es sehr wichtig, dass sich Unternehmen genau überlegen, welche optimale Stufe sie ansteuern. Das Optimum kann durchaus unterhalb einer vollständigen Industrie-4.0-Realisierung angesiedelt sein, denn die Herstellung massenindividualisierter Produkte wird nicht in jedem Bereich gleich attraktiv sein. Und neben den Chancen gibt es auch nicht zu verachtende Risiken, die mit der Umstellung einhergehen: Mit der Offenheit der Fertigung ist die Frage der Gewährleistung der Datensicherheit zu klären. Autonomie führt zu Fragen bzgl. der Funktionssicherheit. Ich empfehle Unternehmen, im Einzelfall genau zu prüfen, ob die Chancen die Risiken überwiegen.
Wenn ich als Unternehmen mein Ziel definiert habe, wie gehe ich dann an die Umstellung auf Industrie 4.0 heran?
Man wird nicht in einem Schritt auf Industrie 4.0 umstellen können. Zur Orientierung gibt es entsprechende Stufenmodelle, wie zum Beispiel den auf der Hannover Messe 2016 vorgestellten Industrie 4.0-Maturity-Index. Solche Stufenmodelle können die Entwicklung eines Plans erleichtern.
Zieldefinition, Abwägung von Chancen und Risiken und schlussendlich die stufenweise Umstellung auf Industrie 4.0 – wie kann das Fraunhofer IESE Unternehmen hierbei unterstützen?
Wir begleiten Unternehmen von Anfang an entlang des gesamten Weges bis hin zu Industrie 4.0: beginnend bei einer Positionsbestimmung, über die Vision, die Ziele und die Geschäftsmodellentwicklung bis hin zur schrittweisen Umsetzung mit geeigneten Lösungen aus der Software- und Systemtechnik. Für spezifische Themen greifen wir auf das Fraunhofer-Netzwerk mit seinen über 60 Einzelinstituten zurück – so finden wir für jede Herausforderung die passende Lösung.